RUBRIKEN
Home
Polemik/Aktuelles
Literatur
Philosophie/Psycho
Über den Autor
Summaries &
Translations
SK König Plauen
Mehr Philosophie:
seidel.jaiden.de
POLEMIK
2. Oktober 2007

Der Stubentiger von Madras
oder: die Vishi-Vashi-WM

Stell dir vor, es ist Schach-WM und keiner kriegt’s mit. Noch vor 10 Jahren wäre das undenkbar gewesen, aber nun ist es passiert. Die gerade beendete Weltmeisterschaft in Mexiko erregte so viel Aufsehen wie der Wetterbericht von gestern. Beide verbreiteten dieselbe Botschaft: weder kalt noch heiß, weder nass noch trocken, ein ganz normaler mieser Tag, Alltag eben. Die Sensation der Stunde heißt "Anand ist Weltmeister", und wir, die Schachfreaks, die wir seinem ewigen und stillen Kampf um die Schachkrone seit einem Dutzend Jahre mehr oder weniger interessiert folgen, gönnen es ihm aus vollem Herzen; Mr. Nice Guy. Glückwunsch. Und hübsch lächeln. Und eine hübsche junge Frau hast du da und sogar auf Spanisch kannst du Pressekonferenz halten. Wir freuen uns …

Vishi?, fragt dagegen der Mensch auf der Straße. Und Vishivashi meint er damit. Kaum einer kennt den Mann, die Medien interessieren sich nicht für ihn, und fragt man nach dem aktuellen Weltmeister oder gar der Meisterschaft, dann fallen noch immer Namen wie Fischer, Karpow und Kasparow. Erst neulich entschied sich der Kandidat in "The Weakest Link" bei einer fifty-fifty-Frage um den derzeitigen Weltmeister für Kasparow, um den sich selbst jetzt noch die Medien reißen, der Name Kramnik dagegen erntete nur ein ungläubiges Gesicht. Dabei "regierte" unser Gospodin Wladimir das Reich der Könige für sieben lange Jahre. Sie vergingen wie im Flug, scheinbar ereignislos und ganz sicher ohne jede Aufregung. Und Sandokan Anand wird’s auch nicht besser richten. Wir kommen nicht umhin einzusehen: Eine WM macht noch keinen Weltmeister und die Goldenen Schachzeiten sind vorbei und das aus drei Gründen.

 

Es gibt keine charismatischen Spieler mehr. Als Kasparow von der Bildfläche verschwand, starb der letzte Dinosaurier, Tyrannosaurus Rex zumal. Erst jetzt begreifen wir den wahren Verlust des Hassgeliebten. Seine Stelle nahm der Yuppi-Klub der Neureichen ein, die Hand am Schlips, von Männerparfüm umwogt, gebügelte Hose, die Brille sitzt. Den Schachtisch, einst ein Battlefield der Emotionen, haben sie zum Büromöbel degradiert, auf dem sie ihre artigen Erfolge verwalten. Als Schreibstubennaturen pflegen sie ihr Bäuchlein oder ihre Kränkelei und geben hin und wieder ein nettes Interview oder machen eine neue DVD, die sie dann – wie die Models ihre aufregenden Kalender (hier wie dort das gleiche Elend [1]) –, in Fachpressekonferenzen wie Schwerstarbeit anpreisen. Anand, Kramnik, Leko, das ist grau in grau; Grischuk, Swidler, Morozewitsch fressen ihren potentiell wertvollen ironischen Humor in sich hinein oder verausgaben ihn auf Blitzschachservern. Political correctness is the name of the game, auf und neben dem Brett. Unsere modernen Schachheroen sind Spiegelbild einer zynischen Gesellschaft geworden, die sich mit dem eigenen Vorteil und dem Mittelmaß begnügt. Heißlaufen, Hyperventilieren, das können die Sicherheitsanbeter nicht mehr – das Schach stirbt den Kältetod. Böse wird man nur noch, wenn die eigenen Pfründe angegriffen werden, ansonsten gilt: Sum ergo sum. Und die kommende Generation von Schachpragmatikern macht auch nicht neugierig – die lassen sich als Milchgesichter noch halbwegs hoffnungsvoll vermarkten, aber nach dem Stimmbruch gehen sie unter im Chor der exzellenten Mittelmäßigkeit; mit viel Glück schafft es der eine oder andere noch zur nationalen Prominenz, sofern er aus historisch gedemütigtem Lande stammt.

 

Das Schach hat seine politische und weltanschauliche Brisanz eingebüßt. Dabei ist es nur zum Teil Opfer der großen Politik. Vielleicht würde es ja erneut Aufsehen erregen, wenn ein Talibanmeister die Szene beträte oder ObL sich beim Schachspiel filmen ließe, aber das ist so unwahrscheinlich wie die Erweckung des Schachs aus den derzeitigen Ressourcen. Aljechin und Capablanca, Lasker und Tarrasch, da standen sich noch Philosophien gegenüber und die Gebildeten aller Klassen ergriffen Partei. Botwinnik und Bronstein, Fischer und Spassky, Karpow und Kasparow, das waren Systemkämpfe, bei denen sich jeder positionieren musste. Und was haben die nicht gekämpft und gefochten, gezaubert und großartig geirrt. Heute dagegen begnügt sich der amtierende Weltmeister mit einem Dutzend Remis, als wäre die Goldschale ihm nicht mehr wert als die morgendliche Müslischüssel. Hauptsache nicht verlieren statt gewinnen wollen und ein paar ELO-Pünktchen einfahren, dann ist’s man schon zufrieden. Vishi reiht sich nicht in die Reihe dieser ruhmvollen Namen ein, nein, er setzt die Sekundärlinie Khalifman, Ponomariov, Kasimjanow, Topalov fort. Er hat eines von tausend Großmeisterturnieren gewonnen, das ein paar Eifrige "Weltmeisterschaft" getauft hatten.

 

Der lang erhoffte Befreiungseffekt eines Vereinigungskampfes hat sich als Trugschluss erwiesen. Unter dem schützenden Dach der FIDE wollte man Friede Freude Eierkuchen, mit dem erklärten Ziel, das Spiel wieder populärer zu machen. Dafür wurden Zeitregeln geändert, Spielmodi, alles musste schneller und bunter werden, nur leider stellt sich nun heraus, dass das Gegenteil eingetreten ist. Die Schachhauptstadt liegt heute in der Wüste und kann fast nur zu Pferde erreicht werden, die Qualität der Partien hat nachgelassen, jetlagmüde Großmeister spielen busy, aber alles nur um ein allgemeines Desinteresse zu übertünchen. Von einer Schach-WM wissen die meisten maßgeblichen Blätter nichts, die Namen der führenden Koryphäen der Zeit tauchen in der Weltpresse nur noch in Fußnoten auf und auch nur dort, wo eine schachspielende journalistische Altlast ihre knochigen Finger im Spiel hat. Ein Jahres- oder Zweijahresrhythmus, das wird nun deutlich, wird am Imageproblem des Schachs nichts verbessern, im Gegenteil, die Inflation der Ereignisse wird seinen Wert noch senken und sollte es doch noch einmal Schlagzeilen machen, dann mit großer Wahrscheinlichkeit für die falschen Gründe. Doping etwa, das wäre ein Glücksfall! Nur welchem der Bubigesichter soll man das noch zutrauen?

 

… und gerade eben lese ich auf Chessbase folgende Siegesmeldung: "Anands Sieg beim WM-Turnier in Mexiko wurde auch von der allgemeinen Presse zur Kenntnis genommen. Einige Blätter berichteten zudem regelmäßig vom Verlauf der Weltmeisterschaft." Zu den glorreichen Blättern zählen "Netzzeitung", "Kölner Stadtanzeiger", "ND" und "Hamburger Abendblatt" – noch nicht mal das Morgenblatt interessiert sich mehr dafür. Die Süddeutsche, als Institution, bringt eine zehnzeilige gelangweilte DPA-Meldung. Quod erat demonstrandum.

 

 

--- Jörg Seidel, 02.10.2007 ---


[1] Claudia Schiffer: Die Supermodels sterben aus: http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,503304,00.html


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

Impressum
Copyright © 2002 by Christian Hörr
www.koenig-plauen.de