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Der Stubentiger von
Madras
oder: die Vishi-Vashi-WM
Stell dir vor, es ist Schach-WM und keiner
kriegts mit. Noch vor 10 Jahren wäre das
undenkbar gewesen, aber nun ist es passiert. Die gerade
beendete Weltmeisterschaft in Mexiko erregte so viel
Aufsehen wie der Wetterbericht von gestern. Beide verbreiteten
dieselbe Botschaft: weder kalt noch heiß, weder
nass noch trocken, ein ganz normaler mieser Tag, Alltag
eben. Die Sensation der Stunde heißt "Anand
ist Weltmeister", und wir, die Schachfreaks, die
wir seinem ewigen und stillen Kampf um die Schachkrone
seit einem Dutzend Jahre mehr oder weniger interessiert
folgen, gönnen es ihm aus vollem Herzen; Mr. Nice
Guy. Glückwunsch. Und hübsch lächeln.
Und eine hübsche junge Frau hast du da und sogar
auf Spanisch kannst du Pressekonferenz halten. Wir freuen
uns
Vishi?, fragt dagegen der Mensch auf
der Straße. Und Vishivashi meint er damit. Kaum
einer kennt den Mann, die Medien interessieren sich
nicht für ihn, und fragt man nach dem aktuellen
Weltmeister oder gar der Meisterschaft, dann fallen
noch immer Namen wie Fischer, Karpow und Kasparow. Erst
neulich entschied sich der Kandidat in "The Weakest
Link" bei einer fifty-fifty-Frage um den derzeitigen
Weltmeister für Kasparow, um den sich selbst jetzt
noch die Medien reißen, der Name Kramnik dagegen
erntete nur ein ungläubiges Gesicht. Dabei "regierte"
unser Gospodin Wladimir das Reich der Könige für
sieben lange Jahre. Sie vergingen wie im Flug, scheinbar
ereignislos und ganz sicher ohne jede Aufregung. Und
Sandokan Anand wirds auch nicht besser richten.
Wir kommen nicht umhin einzusehen: Eine WM macht noch
keinen Weltmeister und die Goldenen Schachzeiten sind
vorbei und das aus drei Gründen.
Es gibt keine charismatischen Spieler
mehr. Als Kasparow von der Bildfläche verschwand,
starb der letzte Dinosaurier, Tyrannosaurus Rex zumal.
Erst jetzt begreifen wir den wahren Verlust des Hassgeliebten.
Seine Stelle nahm der Yuppi-Klub der Neureichen ein,
die Hand am Schlips, von Männerparfüm umwogt,
gebügelte Hose, die Brille sitzt. Den Schachtisch,
einst ein Battlefield der Emotionen, haben sie zum Büromöbel
degradiert, auf dem sie ihre artigen Erfolge verwalten.
Als Schreibstubennaturen pflegen sie ihr Bäuchlein
oder ihre Kränkelei und geben hin und wieder ein
nettes Interview oder machen eine neue DVD, die sie
dann – wie die Models ihre aufregenden Kalender
(hier wie dort das gleiche Elend [1]) –, in Fachpressekonferenzen
wie Schwerstarbeit anpreisen. Anand, Kramnik, Leko,
das ist grau in grau; Grischuk, Swidler, Morozewitsch
fressen ihren potentiell wertvollen ironischen Humor
in sich hinein oder verausgaben ihn auf Blitzschachservern.
Political correctness is the name of the game, auf und
neben dem Brett. Unsere modernen Schachheroen sind Spiegelbild
einer zynischen Gesellschaft geworden, die sich mit
dem eigenen Vorteil und dem Mittelmaß begnügt.
Heißlaufen, Hyperventilieren, das können
die Sicherheitsanbeter nicht mehr – das Schach
stirbt den Kältetod. Böse wird man nur noch,
wenn die eigenen Pfründe angegriffen werden, ansonsten
gilt: Sum ergo sum. Und die kommende Generation von
Schachpragmatikern macht auch nicht neugierig –
die lassen sich als Milchgesichter noch halbwegs hoffnungsvoll
vermarkten, aber nach dem Stimmbruch gehen sie unter
im Chor der exzellenten Mittelmäßigkeit;
mit viel Glück schafft es der eine oder andere
noch zur nationalen Prominenz, sofern er aus historisch
gedemütigtem Lande stammt.
Das Schach hat seine politische und weltanschauliche
Brisanz eingebüßt. Dabei ist es nur zum Teil
Opfer der großen Politik. Vielleicht würde
es ja erneut Aufsehen erregen, wenn ein Talibanmeister
die Szene beträte oder ObL sich beim Schachspiel
filmen ließe, aber das ist so unwahrscheinlich
wie die Erweckung des Schachs aus den derzeitigen Ressourcen.
Aljechin und Capablanca, Lasker und Tarrasch, da standen
sich noch Philosophien gegenüber und die Gebildeten
aller Klassen ergriffen Partei. Botwinnik und Bronstein,
Fischer und Spassky, Karpow und Kasparow, das waren
Systemkämpfe, bei denen sich jeder positionieren
musste. Und was haben die nicht gekämpft und gefochten,
gezaubert und großartig geirrt. Heute dagegen
begnügt sich der amtierende Weltmeister mit einem
Dutzend Remis, als wäre die Goldschale ihm nicht
mehr wert als die morgendliche Müslischüssel.
Hauptsache nicht verlieren statt gewinnen wollen und
ein paar ELO-Pünktchen einfahren, dann ists
man schon zufrieden. Vishi reiht sich nicht in die Reihe
dieser ruhmvollen Namen ein, nein, er setzt die Sekundärlinie
Khalifman, Ponomariov, Kasimjanow, Topalov fort. Er
hat eines von tausend Großmeisterturnieren gewonnen,
das ein paar Eifrige "Weltmeisterschaft" getauft
hatten.
Der lang erhoffte Befreiungseffekt eines
Vereinigungskampfes hat sich als Trugschluss erwiesen.
Unter dem schützenden Dach der FIDE wollte man
Friede Freude Eierkuchen, mit dem erklärten Ziel,
das Spiel wieder populärer zu machen. Dafür
wurden Zeitregeln geändert, Spielmodi, alles musste
schneller und bunter werden, nur leider stellt sich
nun heraus, dass das Gegenteil eingetreten ist. Die
Schachhauptstadt liegt heute in der Wüste und kann
fast nur zu Pferde erreicht werden, die Qualität
der Partien hat nachgelassen, jetlagmüde Großmeister
spielen busy, aber alles nur um ein allgemeines Desinteresse
zu übertünchen. Von einer Schach-WM wissen
die meisten maßgeblichen Blätter nichts,
die Namen der führenden Koryphäen der Zeit
tauchen in der Weltpresse nur noch in Fußnoten
auf und auch nur dort, wo eine schachspielende journalistische
Altlast ihre knochigen Finger im Spiel hat. Ein Jahres-
oder Zweijahresrhythmus, das wird nun deutlich, wird
am Imageproblem des Schachs nichts verbessern, im Gegenteil,
die Inflation der Ereignisse wird seinen Wert noch senken
und sollte es doch noch einmal Schlagzeilen machen,
dann mit großer Wahrscheinlichkeit für die
falschen Gründe. Doping etwa, das wäre ein
Glücksfall! Nur welchem der Bubigesichter soll
man das noch zutrauen?
und gerade eben lese ich auf Chessbase
folgende Siegesmeldung: "Anands Sieg beim WM-Turnier
in Mexiko wurde auch von der allgemeinen Presse zur
Kenntnis genommen. Einige Blätter berichteten
zudem regelmäßig vom Verlauf der Weltmeisterschaft."
Zu den glorreichen Blättern zählen "Netzzeitung",
"Kölner Stadtanzeiger", "ND"
und "Hamburger Abendblatt" – noch nicht
mal das Morgenblatt interessiert sich mehr dafür.
Die Süddeutsche, als Institution, bringt eine zehnzeilige
gelangweilte DPA-Meldung. Quod erat demonstrandum.
--- Jörg Seidel, 02.10.2007 ---
[1]
Claudia Schiffer: Die Supermodels sterben aus: http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,503304,00.html
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