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Dies ist der 2.
Teil der vergleichenden Analyse Maurensig/Meras. Hier
geht es zum 1. Teil.
Icchokas Meras: Remis
für Sekunden
Doch in dieser
geheimnisvollen Abendstille gab es Menschen, Karbidlampen,
einen kleinen Schachtisch, Figuren, tote Figuren und
zwei lebende, die einander gegenübersaßen: Isaak Lipman
und Adolf Schoger. Die toten Figuren waren nur Holz.
Die lebenden aber Kämpfer.
Vollkommene Authentizität weist
Icchokas Meras "Remis für Sekunden auf.
Ohne etwas über den Autor zu wissen – über
litauische Literatur weiß man hierzulande wenig
und wäre nicht auf der Frankfurter Buchmesse 2001
das kleine baltische Land Thema gewesen und deswegen
eine Neuauflage des Buches erschienen, das 1966 in der
DDR publizierte Büchlein wäre noch immer ein
vergessenes Meisterwerk -, ohne die Lebensgeschichte
des litauischen Juden Meras präsent zu haben, spürt
der Leser umgehend, dass er in seinem Schreiben restlos
aufgeht.
Anfangs benötigt man eine Weile,
um sich dem Rhythmus dieser knorrigen Prosa anzupassen,
aber nach und nach wird man von ihm aufgefangen und
wiegt atemlos in den langsamen Wellen dieses Buches
mit. Meras verzichtet auf alles Überflüssige.
Die Sätze sind einfach gestaltet, erlauben sich
selten ausschweifende Konstruktionen. Eine Einfachheit,
ja Einfältigkeit, die Eigentlichkeit und Echtheit
mit sich führt. Eine Schreibweise, die ihrem Gegenstand
fast erschreckend entspricht. Ist es ein schnelles oder
ein langsames Buch? Gibt man sich ihm hin, dann liegt
es da, aufgeschlagen, wie ein spiegelglatter schwarzer
See, dessen trügerische Ruhe seine wahre Tiefe
erahnen lässt. Aber Tiefe hat dieses Buch, abgründige
Tiefe! Es gehört zu den wenigen Büchern, die
Sätze wie diese nicht nur unbeschädigt überstehen,
sondern in denen diese Sätze, die so leicht falsch
und banal wirken, wenn die falsche Zunge sie ausspricht,
Weisheit ausstrahlen: "Die Zeit. Sie ist an allem
schuld. Der Mensch kann vieles tun, doch eines kann
er nicht – er kann die Zeit nicht zurückholen,
die Uhr nicht zurückdrehen" – "Wenn
du denkst, nur das Getto sei Getto, so irrst du dich.
Draußen ist auch ein Getto. Der Unterschied besteht
nur darin, dass unser Getto umzäunt ist und das
andere nicht" – "Menschen sind immer
verschiedener Meinung und werden es auch immer sein".
Den Hauptrhythmus bestimmt einerseits
das Schachspiel zwischen Isaak und Schoger, dem 17-jährigen
Insassen und dem deutschen Gettokommandanten. Kontrapunkte
dazu setzen die nach biblischem Vorbild geformten genealogischen
Einschübe Abrahams. Er ist der Baum. Der Baum wird
stehen, es wird nur ein Ast fehlen, wenn der nächste
Sprössling seiner zahlreichen Familie zu Grunde
gehen wird. Nur Isaak wird ihm bleiben, und auch diesen
ist er bereit zu opfern, wenn die Notwendigkeit es will,
Isaak der Schachspieler, der um das Leben der Gettokinder
spielt. Schoger droht, alle Kinder des litauischen Gettos
zu deportieren, wenn Isaak verliert. Gewinnt er, so
wird Isaak erschossen. Nur ein Remis kann alle retten.
Aber es ist schwer, ein Remis zu erzwingen, viel schwerer
als Sieg oder Niederlage. Und während Issak eröffnet
und den fünften und den entscheidenden 17. Zug
macht, während er ins Endspiel abwickelt und vor
der letzten Entscheidung steht – Remis oder Matt
für Schoger – wird seine Geschichte erzählt
und die seiner jungen Liebe, Esthers, und die Geschichte
aller Kinder des Abraham. Kleine menschliche Schwächen
sind es, die diesen, eigentlich nur skizzierten, mit
wenigen Strichen hingeworfenen Menschen Fülle und
Überzeugungskraft verleiht, in einem Ausmaße,
wie es vielleicht erst wieder Imre Kertecs gelungen
ist, mit seinem "Roman eines Schicksalslosen".
Da gibt es Rahel, der man den Sohn nahm,
die man im genetischen Experiment künstlich befruchtete,
die jenes liebenswerte und ekelerregende Geschöpf
gebiert.
Da gibt es Bassja, die auf die Strasse
geht und dort Ruwa findet, der in ihr den Menschen,
nicht die Frau achtet.
Da gibt es Kasriel, der fast ein Philosoph
geworden wäre, ein Übermensch und der zu schwach
ist, den Folterungen zu widerstehen, und stark genug,
sie auf ewig zu vermeiden.
Da gibt es Riwa, die Partisanin, die
aus dem Getto floh, das Elektrizitätswerk in die
Luft sprengte, die nach 30 freien Tagen doch von deutschen
Truppen umstellt wird und die auch noch die letzte Kugel
für den Feind bereit hält.
Da gibt es Ina, die berühmte Sängerin,
deren Schicksal der Versuch, eine Partitur ins Getto
zu schmuggeln, besiegelt.
Und da gibt es noch Taibele, die jüngste
der Geschwister, ein kleines Mädchen noch, die
Abraham weggab zum Rechtsanwalt Klimas und dessen Frau,
auf dass sie sicher sei, und die zusammen mit ihren
Adoptiveltern am Galgen endet.
Abraham, der Baum, der Gettoleiter, sieht
seine Kinder alle gehen, nur Isaak bleibt noch, Isaak,
der mit Schoger um das Leben Schach spielt.
Aber dieses Buch erzählt auch die
Geschichte Janeks, des Polen, der freiwillig im Getto
bleibt.
Es erzählt die Geschichte Lisas,
die ein Kind von fremdem Samen erwürgt und ein
litauisches an die Brust legen wird.
Die Geschichte Rudis, der den Widerstand
organisiert.
Die Geschichte Jaschkas, des Peitschenmeisters,
der andere schlägt, damit er nicht geschlagen wird.
Die Geschichte Hersch Mitenbergs, dem
einstigen Führer des Gettos, der sich der Gestapo
stellt, in den Gestapokammern ein qualvolles Ende findet,
um das Getto zu retten.
Es erzählt die Geschichte Maikas,
der schon tot ist, als die Geschichte beginnt.
Es wird Antanas Jankauskas Geschichte
erzählt, der Litauer, der eine Abrahamstochter
lieben lernt und mir ihr im Kugelhagel stirbt, und die
Geschichte seines Bruders, des Kollaborateurs.
Auch von den litauischen Frauen wird
erzählt, die den beiden Flüchtlingen Milch
und Brot geben und traurig dazu lächeln.
Und die Geschichte des namenlosen deutschen
Soldaten, mit den blonden Stoppeln und den tiefen Falten
um die Augen, der Isaak und Esther aus dem Getto befreit.
Auch dieser eine, einzige deutsche Soldat macht das
Buch groß!
Selbst die Geschichte der Pflastersteine,
auf denen die Menschen herumtrampeln, wird erzählt.
Sie aber liegen, unbeweglich, steinhart. Oder die der
Blumen, mit denen man zärtlich die Wangen der Geliebten
streicheln kann
Vergessen wir nicht die Geschichte des
Schachspiels, an einem Ort, wo das Schachspielen oder
das Blumenpflücken, wo kleine Gesten, Widerstand
bedeuten können, auch die Geschichte des Schachspiels
wird erzählt, des Schachspiels mit Schoger, das
sich entwickelt und vor dem 17. Zug nach Plan zu laufen
schien, doch dann macht Isaak einen Fehler, der ihm
das teure Remis kosten kann, der es am Ende aber sichert,
sichern könnte. Eine versteckte Parabel. Es kommt
alles ganz anders!
Icchokas Meras: Remis für Sekunden.
Berlin (Ost) 1966. 178 Seiten
--- Jörg Seidel, 15.06.2004 ---
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