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LITERATUR
19. Mai 2004

Frances Usher: The Waiting Game

He needed to get his feet down on the board to feel rooted, to feel grounded.


Es gibt solche und solche Kinderbücher und manche scheinen das eine zu sein und sind doch das andere.

Die Ausgangsstellung in "The Waiting Game" sieht nicht vielversprechend aus:

 

               
               
               
               
               
               
               
Cracky
Rook
Warty Venus
Queen
Dog
Loose-head
Sea Horse
Rope

 

Der Turm auf dem falschen Feld, statt König ein Hund, statt Springer ein Seepferd und jede Menge weiterer Phantasiefiguren. Dabei entpuppt sich alles sehr bald als einsichtig.

Cassy Ashford ist nicht nur ein eigenartiger Teenager, sie hat auch eine außergewöhnliche Geschichte und einen ungewöhnlichen Vater. Man trifft sie zum ersten Mal auf dem Flughafen, wo sie ihren Vater und dessen Crew zur Himalaja-Expedition verabschiedet. Zwei Monate wird die Tour dauern, 64 Tage, um exakt zu sein. Am selben Abend noch ersteht Cassy auf dem Schulbasar ein gebrauchtes Schachbrett und vier einzelne Figuren, denen sie Namen verleiht und denen sie vier Kinderkram-Gegenstände zur Seite stellt. Daraus schafft sie sich eine Art Kalender: Jeden Tag wird eine Figur ein Feld gerückt und wenn die letzte sich zur Dame gewandelt hat, dann ist Dad wieder da. Eigentlich entstammt alles nur einem Zufall, aber durch diesen kleinen Trick bekommen die Figuren etwas Magisches, so als ob sie den Vater zurück bringen könnten. Unsichtbare Fäden verbinden sie mit dem Schicksal des geliebten Menschen. Sie ist auch gar nicht am Schach interessiert:

Cassy knew next to nothing about chess. … Somehow Cassy wasn’t interested. She’d never been able to see the point of a game – any game – that was basically a war between two sides. Who wanted to fight a war for fun?” (24)

Trotzdem spürt sie den Zauber der Figuren, intensiver wohl, als jeder Nur-Schach-Spieler, verliert sie sich in Phantasien und lässt – oder handelt es sich gar tatsächlich um Zaubersteine? – diese, meist im militärischen Ton, miteinander Gespräche führen. Ganz nebenbei und wirklich nur ganz nebenbei wird die Faszination des Spiels –"the mind-blowing thing about chess" – erklärt, so nebenbei jedenfalls, dass ein jugendlicher Leser vielleicht tatsächlich sich inspirieren lässt, weil er keinen didaktischen Trick vermutet. Jeden Abend, das wird bald zum Ritual, zieht Cassy eine Figur, jeden Abend kommt sie ihrem Vater ein Stück näher.

Schlagartig kommt alles anders! Was ein bisschen wie ein Märchen, wie eine Klein-Mädchen-Geschichte begann, wird urplötzlich zur harten Realität. Nachrichten sickern durch, dass Cassys Vater zu einer kleinen Gruppe von Bergsteigern gehört, die von einer radikalen politischen Organisation entführt wurde, die für die Befreiung Tibets eintritt. Man droht mit Erschießung. Das Spiel mit ein paar Schachfiguren bekommt nun eine neue bedrohliche Dimension.

Was wird sein, wenn alle 64 Züge getan wurden und Dad noch immer nicht zu Hause ist? Einen Vorgeschmack dessen erfährt Cassy im tagtäglichen Leben, von der Aufmerksamkeit und dem Mitgefühl der Schulkameraden ebenso verfolgt wie von gierigen Pressefritzen und der immerwährenden Jagd nach neuesten Nachrichten. Und natürlich die Frage: Warum? Warum Dad?

 

An dieser Stelle hat das Buch am meisten überzeugt und lässt problemlos über ein paar Holprigkeiten und Längen hinwegsehen, denn wir finden hier einen ernsthaften Versuch vor, Verständnis zu zeigen für das Verhalten anderer, sei es auch noch so verletzend, und eine Denk- und Diskussionskultur, die wohl eher eine Seltenheit in einer Zeit darstellt, in der in Literatur und Film Konflikte allzu gewöhnlich mit Gewalt und Waffen, oder aber, im Potter-Fieber, mit Zauberbesen und anderem Humbug gelöst werden, ohne in die Gegensünde des Predigens zu verfallen. Ein Buch also, das aufgeweckte Kinder zur Diskussion mit anderen, auch mit Eltern und Lehrern anregen wird! Alles verstehen ist alles verzeihen – scheint sein heimliches Motto zu sein. Dabei ist es selbst nicht frei von Phantastereien, den Gesprächen der Schachfiguren, die eine zweite Handlungsebene bilden und deren Sinn ich nicht immer verstehen kann, aber dafür bin ich vielleicht nicht mehr Kind genug. Wahrscheinlich dienen sie dazu, den Einzug des real existierenden Terrors in die Kinderzimmer abzufedern.

Denn am Ende muss man zugeben: Es wird dem jugendlichen Leser viel abverlangt, im tiefsten Kern dieser kleinen großen Kindergeschichte wird das moderne Leben der westlichen Gesellschaften gleich mehrspurig hinterfragt. Was schließlich will man sagen, wenn verzweifelte Menschen aus guten Gründen, aber mit falschen Mitteln (wenn es denn die falschen sind) um ihr Recht kämpfen; wenn die einen ihr Leben geben um das anderer zu retten, wenn einer der Geiseln erschossen werden soll, darf man sich dann den Tod eines Fremden wünschen?, wenn guter Wille doch nur verletzen kann etc.? Wer seinen Kindern diese Fragen zutraut und en passant noch die heilende Magie des "noble game" mitteilen will, der sollte mit "The Waiting Game" nicht enttäuscht werden; wer nicht, der kann auch heute Abend die Kids wieder vor der Röhre absetzen. Ich jedenfalls muss gestehen, dass mir ein leichter Schauer über den Rücken lief, als sich alles auflöste.

 

Frances Usher: The Waiting Game. London 1998. 167 Seiten. £4.50

 

Bei Interesse kann ich eine begrenzte Anzahl von Büchern (Remittenten) zum Preis von 5 Euro (inkl. Versand) besorgen. Bitte schreiben Sie an: JK@Seidwalk.fsnet.co.uk

 

 

--- Jörg Seidel, 19.05.2004 ---


Dieser Text ist geistiges Eigentum von Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor. Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.

 

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