Frances Usher: The
Waiting Game
He needed to
get his feet down on the board to feel rooted, to feel
grounded.
Es gibt solche und solche Kinderbücher und manche
scheinen das eine zu sein und sind doch das andere.
Die Ausgangsstellung in "The Waiting
Game" sieht nicht vielversprechend aus:
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Cracky
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Rook
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Warty Venus
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Queen
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Dog
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Loose-head
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Sea Horse
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Rope
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Der Turm auf dem falschen Feld, statt
König ein Hund, statt Springer ein Seepferd und
jede Menge weiterer Phantasiefiguren. Dabei entpuppt
sich alles sehr bald als einsichtig.
Cassy Ashford ist nicht nur ein eigenartiger
Teenager, sie hat auch eine außergewöhnliche
Geschichte und einen ungewöhnlichen Vater. Man
trifft sie zum ersten Mal auf dem Flughafen, wo sie
ihren Vater und dessen Crew zur Himalaja-Expedition
verabschiedet. Zwei Monate wird die Tour dauern, 64
Tage, um exakt zu sein. Am selben Abend noch ersteht
Cassy auf dem Schulbasar ein gebrauchtes Schachbrett
und vier einzelne Figuren, denen sie Namen verleiht
und denen sie vier Kinderkram-Gegenstände zur Seite
stellt. Daraus schafft sie sich eine Art Kalender: Jeden
Tag wird eine Figur ein Feld gerückt und wenn die
letzte sich zur Dame gewandelt hat, dann ist Dad wieder
da. Eigentlich entstammt alles nur einem Zufall, aber
durch diesen kleinen Trick bekommen die Figuren etwas
Magisches, so als ob sie den Vater zurück bringen
könnten. Unsichtbare Fäden verbinden sie mit
dem Schicksal des geliebten Menschen. Sie ist auch gar
nicht am Schach interessiert:
Cassy knew next to nothing about chess.
Somehow Cassy wasnt interested. Shed
never been able to see the point of a game – any
game – that was basically a war between two sides.
Who wanted to fight a war for fun? (24)
Trotzdem spürt sie den Zauber der
Figuren, intensiver wohl, als jeder Nur-Schach-Spieler,
verliert sie sich in Phantasien und lässt –
oder handelt es sich gar tatsächlich um Zaubersteine?
– diese, meist im militärischen Ton, miteinander
Gespräche führen. Ganz nebenbei und wirklich
nur ganz nebenbei wird die Faszination des Spiels –"the
mind-blowing thing about chess" – erklärt,
so nebenbei jedenfalls, dass ein jugendlicher Leser
vielleicht tatsächlich sich inspirieren lässt,
weil er keinen didaktischen Trick vermutet. Jeden Abend,
das wird bald zum Ritual, zieht Cassy eine Figur, jeden
Abend kommt sie ihrem Vater ein Stück näher.
Schlagartig kommt alles anders! Was ein
bisschen wie ein Märchen, wie eine Klein-Mädchen-Geschichte
begann, wird urplötzlich zur harten Realität.
Nachrichten sickern durch, dass Cassys Vater zu einer
kleinen Gruppe von Bergsteigern gehört, die von
einer radikalen politischen Organisation entführt
wurde, die für die Befreiung Tibets eintritt. Man
droht mit Erschießung. Das Spiel mit ein paar
Schachfiguren bekommt nun eine neue bedrohliche Dimension.
Was wird sein, wenn alle 64 Züge
getan wurden und Dad noch immer nicht zu Hause ist?
Einen Vorgeschmack dessen erfährt Cassy im tagtäglichen
Leben, von der Aufmerksamkeit und dem Mitgefühl
der Schulkameraden ebenso verfolgt wie von gierigen
Pressefritzen und der immerwährenden Jagd nach
neuesten Nachrichten. Und natürlich die Frage:
Warum? Warum Dad?
An dieser Stelle hat das Buch am meisten
überzeugt und lässt problemlos über ein
paar Holprigkeiten und Längen hinwegsehen, denn
wir finden hier einen ernsthaften Versuch vor, Verständnis
zu zeigen für das Verhalten anderer, sei es auch
noch so verletzend, und eine Denk- und Diskussionskultur,
die wohl eher eine Seltenheit in einer Zeit darstellt,
in der in Literatur und Film Konflikte allzu gewöhnlich
mit Gewalt und Waffen, oder aber, im Potter-Fieber,
mit Zauberbesen und anderem Humbug gelöst werden,
ohne in die Gegensünde des Predigens zu verfallen.
Ein Buch also, das aufgeweckte Kinder zur Diskussion
mit anderen, auch mit Eltern und Lehrern anregen wird!
Alles verstehen ist alles verzeihen – scheint sein
heimliches Motto zu sein. Dabei ist es selbst nicht
frei von Phantastereien, den Gesprächen der Schachfiguren,
die eine zweite Handlungsebene bilden und deren Sinn
ich nicht immer verstehen kann, aber dafür bin
ich vielleicht nicht mehr Kind genug. Wahrscheinlich
dienen sie dazu, den Einzug des real existierenden Terrors
in die Kinderzimmer abzufedern.
Denn am Ende muss man zugeben: Es wird
dem jugendlichen Leser viel abverlangt, im tiefsten
Kern dieser kleinen großen Kindergeschichte wird
das moderne Leben der westlichen Gesellschaften gleich
mehrspurig hinterfragt. Was schließlich will man
sagen, wenn verzweifelte Menschen aus guten Gründen,
aber mit falschen Mitteln (wenn es denn die falschen
sind) um ihr Recht kämpfen; wenn die einen ihr
Leben geben um das anderer zu retten, wenn einer der
Geiseln erschossen werden soll, darf man sich dann den
Tod eines Fremden wünschen?, wenn guter Wille doch
nur verletzen kann etc.? Wer seinen Kindern diese Fragen
zutraut und en passant noch die heilende Magie des "noble
game" mitteilen will, der sollte mit "The
Waiting Game" nicht enttäuscht werden; wer
nicht, der kann auch heute Abend die Kids wieder vor
der Röhre absetzen. Ich jedenfalls muss gestehen,
dass mir ein leichter Schauer über den Rücken
lief, als sich alles auflöste.
Frances Usher: The Waiting Game. London
1998. 167 Seiten. £4.50
Bei Interesse kann ich eine begrenzte
Anzahl von Büchern (Remittenten) zum Preis von
5 Euro (inkl. Versand) besorgen. Bitte schreiben Sie
an: JK@Seidwalk.fsnet.co.uk
--- Jörg Seidel, 19.05.2004 ---
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
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