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LITERATUR
27. Oktober 2005

Zhang Xiguo: Der Schachkönig

"Sie müssen indirekte Wege gehen, im Schachspiel wie in der freien Wirtschaft. Wenn Sie verstehen, indirekte Wege zu gehen, so werden Sie im Leben unermesslichen Erfolg haben."


Die moderne chinesische Literatur hat gleich zwei wesentliche Werke unter dem Titel "Der Schachkönig" vorzuweisen, jenen brillanten Roman Ah Chengs und den bereits 1975 erschienenen taiwanesischen Roman von Zhang Xiguo. Die beiden Bücher zu vergleichen [1] lag nahe, dabei sind sie nahezu unvergleichlich. Während aus Ah Chengs Werk die jahrtausendealte Weisheit des Ostens spricht, die sich u.a. auch in der mystischen Tiefe des Schachspiels verbirgt, versucht Zhang den Wandel der östlichen Gesellschaft einzufangen, deren scheinbar unabänderliche Verwestlichung. Das Spiel der Weisen verkommt dort zum reinen Nutzobjekt, es verliert fast vollkommen seinen intrinsischen Reichtum.

Cheng Ling, der Hauptcharakter, frönte einst künstlerischen Idealen, gab diese aber zugunsten geschäftlicher Interessen auf, nachdem ihm deutlich wurde, dass er nie zur ersten Garde der Maler zählen wird. Der Mammon ist nun sein neuer Gott – "Mir ist der Lauf der Geschichte egal, ich will Freiheit! Ich will nur Geld verdienen, denn Geld bedeutet Freiheit" –, ihm zuliebe lässt er von der künstlerischen Malerei und schließt sich einem Werbebüro an, wo er seine kreativen Fähigkeiten in bare Münze umsetzen kann, etwa als Designer der Fernsehsendung "Welt der Wunderkinder". Eines dieser Wunderkinder – meistens handelt es sich ohnehin nur um vom Fernsehen aufgebauschte Halbtalente – gilt als unbesiegbar im Gobang (einer Art "Vier gewinnt"). Beim ersten Interview entdecken er und sein ehrgeiziger Freund, dass das Kind auch im Fingerknobeln unbesiegbar sei und das kann doch nur möglich sein, wenn man die Intention des Gegners wisse, wenn man also Zukunft ahnt. Was müsste so ein Wunderkind nicht auch im Schach zustande bringen? Und mehr noch, könnte man die unheimliche Fähigkeit nicht tatsächlich in reinen Gewinn umwandeln – an der Börse zum Beispiel?

So bedient man sich des Wunderkindes gleich mehrfach: man lässt es gegen den Schachmeister des Landes im Chinesischen Schach antreten und kann eine weitere Sendung bringen und man lässt es die Kursentwicklung an der Börse erraten, um schnelles Geld zu machen. Wie wenig Cheng Ling und seine gierigen Geschäftsfreunde dabei an die arme Kinderseele denken, ersieht man aus dem Fakt, dass dem Leser dessen Name unbekannt bleibt: "das Wunderkind" ist nur Mittel zum Zweck, es fungiert nur als Schema. Je mehr Cheng sich aber in die Geschichte verstrickt, umso unheimlicher wird sie ihm. Er will das Kind beschützen, anfangs, um die Kuh noch lange melken zu können, mehr und mehr jedoch aus moralischen Gründen. Eine allmähliche innere Wandlung setzt ein. Trotzdem kann er die Entführung des Wunderknaben durch einen seiner Freunde nicht verhindern. Dessen Anliegen ist es, den Verlauf der Geschichte der Menschheit zu erfahren. Nach tagelangem Brüten gehen dem kindlichen Hellseher tatsächlich die Lichter auf, wenn auch nur für einen kurzen und schrecklichen Moment. Danach bricht der Junge zusammen und scheint seine Fähigkeiten verloren zu haben. Die Gier nach Wissen und Geld haben ihn überfordert.

Bleibt freilich noch die angekündigte Fernsehsendung zu überstehen. Zum Glück hatten die Brüder Cheng bereits einige Partien geübt, hatten sie das Wunderkind schon veranlasst die Züge des Schachmeisters vorauszusagen. Solange der Junge also dem Konzept folgte, kann der Meister nicht gewinnen. Das klappt den auch in der ersten Partie, in der zweiten jedoch verfängt sich das jugendliche Hirn in den Aporien des Wissens um die Zukunft und findet in der dritten zu einer neuen Ebene: Es schlägt den Meister aus freiem Willen. Ob das Wunderkind tatsächlich damit seine einstige Fähigkeit wiedererlangt hat oder aber seine Freiheit, lässt der Erzähler offen. Für Cheng jedenfalls wirkt das alles kathartisch; er findet erneut zum wesentlichen in seinem Leben, zur Kunst.

Dem westlichen Leser wird mit dem Roman eine Welt bekannt gemacht, die so unbekannt nicht ist, die Welt der Klimaanlagen, Restaurantbesuche und der Floskeln. Zhang gelang damit ein Einblick in die taiwanesische Gesellschaft, der nicht neugierig macht: Geldgier, Saufgelage, leeres Gequatsche… davon gibt es hier schon mehr als genug. Und, das muß man sagen, es gibt auch zahlreiche Bücher die sich dieser Welt in weit gekonnterem Maße annehmen. Dass Zhang ein brauchbarer Schriftsteller sein kann, davon zeugen verschiedene stilistische Anzeichen und interessante Plot-Ideen, die leider aber von zahlreichen Plattitüden, Ungereimtheiten und hölzernen Dialogen verdeckt werden. Inwieweit das der Übersetzung geschuldet, inwieweit die chinesische Sprache überhaupt übertragbar ist, sei dahingestellt. Fakt ist, dass sich die englische Übersetzung dank des Schnelligkeitsvorteils einmal mehr flüssiger liest.

Dabei könnten etwa die geschichtsphilosophischen Implikationen genügend Anlass zu tiefgründigen Überlegungen geben und sie werden tatsächlich auch diskutiert, leider aber auf recht oberflächliche Art und Weise, recht eindimensional und – was am meisten überrascht – vollkommen im europäischen Denken behaftet. Es ist das eine, Fragen nach der Geschichte, der Religion, nach Freiheit und Notwendigkeit etc., es ist das eine, solche Gedanken auszusagen, das andere, weit schwieriger zu verwirklichende aber, diese Ideen literarisch herauszuarbeiten.

Zhang Xiguo: Der Schachkönig. Bad Honnef 1992 (Horlemann Verlag). 195 Seiten
Chang Shi-kuo: Chess King. Singapore 1986. 182 Seiten

 

--- Jörg Seidel, 27.10.2005 ---


[1] Vgl. Joseph S. M. Lau: Foreword. In: Chang Shi-kuo: Chess King. Singapore 1986.


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