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Zhang Xiguo: Der Schachkönig
"Sie
müssen indirekte Wege gehen, im Schachspiel wie
in der freien Wirtschaft. Wenn Sie verstehen, indirekte
Wege zu gehen, so werden Sie im Leben unermesslichen
Erfolg haben."
Die moderne chinesische Literatur hat gleich zwei wesentliche
Werke unter dem Titel "Der Schachkönig"
vorzuweisen, jenen brillanten Roman Ah
Chengs und den bereits 1975 erschienenen taiwanesischen
Roman von Zhang Xiguo. Die beiden Bücher zu vergleichen
[1] lag nahe, dabei sind sie nahezu unvergleichlich. Während
aus Ah Chengs Werk die jahrtausendealte Weisheit des
Ostens spricht, die sich u.a. auch in der mystischen
Tiefe des Schachspiels verbirgt, versucht Zhang den
Wandel der östlichen Gesellschaft einzufangen,
deren scheinbar unabänderliche Verwestlichung.
Das Spiel der Weisen verkommt dort zum reinen Nutzobjekt,
es verliert fast vollkommen seinen intrinsischen Reichtum.
Cheng Ling, der Hauptcharakter, frönte
einst künstlerischen Idealen, gab diese aber zugunsten
geschäftlicher Interessen auf, nachdem ihm deutlich
wurde, dass er nie zur ersten Garde der Maler zählen
wird. Der Mammon ist nun sein neuer Gott – "Mir
ist der Lauf der Geschichte egal, ich will Freiheit!
Ich will nur Geld verdienen, denn Geld bedeutet Freiheit"
–, ihm zuliebe lässt er von der künstlerischen
Malerei und schließt sich einem Werbebüro
an, wo er seine kreativen Fähigkeiten in bare Münze
umsetzen kann, etwa als Designer der Fernsehsendung
"Welt der Wunderkinder". Eines dieser Wunderkinder
– meistens handelt es sich ohnehin nur um vom Fernsehen
aufgebauschte Halbtalente – gilt als unbesiegbar
im Gobang (einer Art "Vier gewinnt"). Beim
ersten Interview entdecken er und sein ehrgeiziger Freund,
dass das Kind auch im Fingerknobeln unbesiegbar sei
und das kann doch nur möglich sein, wenn man die
Intention des Gegners wisse, wenn man also Zukunft ahnt.
Was müsste so ein Wunderkind nicht auch im Schach
zustande bringen? Und mehr noch, könnte man die
unheimliche Fähigkeit nicht tatsächlich in
reinen Gewinn umwandeln – an der Börse zum
Beispiel?
So bedient man sich des Wunderkindes
gleich mehrfach: man lässt es gegen den Schachmeister
des Landes im Chinesischen Schach antreten und kann
eine weitere Sendung bringen und man lässt es die
Kursentwicklung an der Börse erraten, um schnelles
Geld zu machen. Wie wenig Cheng Ling und seine gierigen
Geschäftsfreunde dabei an die arme Kinderseele
denken, ersieht man aus dem Fakt, dass dem Leser dessen
Name unbekannt bleibt: "das Wunderkind" ist
nur Mittel zum Zweck, es fungiert nur als Schema. Je
mehr Cheng sich aber in die Geschichte verstrickt, umso
unheimlicher wird sie ihm. Er will das Kind beschützen,
anfangs, um die Kuh noch lange melken zu können,
mehr und mehr jedoch aus moralischen Gründen. Eine
allmähliche innere Wandlung setzt ein. Trotzdem
kann er die Entführung des Wunderknaben durch einen
seiner Freunde nicht verhindern. Dessen Anliegen ist
es, den Verlauf der Geschichte der Menschheit zu erfahren.
Nach tagelangem Brüten gehen dem kindlichen Hellseher
tatsächlich die Lichter auf, wenn auch nur für
einen kurzen und schrecklichen Moment. Danach bricht
der Junge zusammen und scheint seine Fähigkeiten
verloren zu haben. Die Gier nach Wissen und Geld haben
ihn überfordert.
Bleibt freilich noch die angekündigte
Fernsehsendung zu überstehen. Zum Glück hatten
die Brüder Cheng bereits einige Partien geübt,
hatten sie das Wunderkind schon veranlasst die Züge
des Schachmeisters vorauszusagen. Solange der Junge
also dem Konzept folgte, kann der Meister nicht gewinnen.
Das klappt den auch in der ersten Partie, in der zweiten
jedoch verfängt sich das jugendliche Hirn in den
Aporien des Wissens um die Zukunft und findet in der
dritten zu einer neuen Ebene: Es schlägt den Meister
aus freiem Willen. Ob das Wunderkind tatsächlich
damit seine einstige Fähigkeit wiedererlangt hat
oder aber seine Freiheit, lässt der Erzähler
offen. Für Cheng jedenfalls wirkt das alles kathartisch;
er findet erneut zum wesentlichen in seinem Leben, zur
Kunst.
Dem westlichen Leser wird mit dem Roman
eine Welt bekannt gemacht, die so unbekannt nicht ist,
die Welt der Klimaanlagen, Restaurantbesuche und der
Floskeln. Zhang gelang damit ein Einblick in die taiwanesische
Gesellschaft, der nicht neugierig macht: Geldgier, Saufgelage,
leeres Gequatsche
davon gibt es hier schon mehr
als genug. Und, das muß man sagen, es gibt auch
zahlreiche Bücher die sich dieser Welt in weit
gekonnterem Maße annehmen. Dass Zhang ein brauchbarer
Schriftsteller sein kann, davon zeugen verschiedene
stilistische Anzeichen und interessante Plot-Ideen,
die leider aber von zahlreichen Plattitüden, Ungereimtheiten
und hölzernen Dialogen verdeckt werden. Inwieweit
das der Übersetzung geschuldet, inwieweit die chinesische
Sprache überhaupt übertragbar ist, sei dahingestellt.
Fakt ist, dass sich die englische Übersetzung dank
des Schnelligkeitsvorteils einmal mehr flüssiger
liest.
Dabei könnten etwa die geschichtsphilosophischen
Implikationen genügend Anlass zu tiefgründigen
Überlegungen geben und sie werden tatsächlich
auch diskutiert, leider aber auf recht oberflächliche
Art und Weise, recht eindimensional und – was am
meisten überrascht – vollkommen im europäischen
Denken behaftet. Es ist das eine, Fragen nach der Geschichte,
der Religion, nach Freiheit und Notwendigkeit etc.,
es ist das eine, solche Gedanken auszusagen,
das andere, weit schwieriger zu verwirklichende aber,
diese Ideen literarisch herauszuarbeiten.
Zhang Xiguo: Der Schachkönig.
Bad Honnef 1992 (Horlemann Verlag). 195 Seiten
Chang Shi-kuo: Chess King. Singapore 1986. 182 Seiten
--- Jörg Seidel, 27.10.2005 ---
[1]
Vgl. Joseph S. M. Lau: Foreword. In: Chang Shi-kuo:
Chess King. Singapore 1986.
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