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Gedanken über ein Aussage
von Gilles Deleuze
oder Wellenreiten beim Schach?
"Die
Begriffe Wichtigkeit, Notwendigkeit, Interesse sind
tausendmal entscheidender als der Begriff der Wahrheit."
Gilles Deleuze
Obwohl dieser kurze Artikel philosophische
Relevanz beansprucht, wird er nichts beweisen. Er wird
nichts anderes tun, als ein paar Zitate aufeinander
zu beziehen, kurzzuschließen, was offenbar vollkommen
verschiedenen und vielleicht sogar ausschließenden
Kontexten entstammt. Am Ende wird also nichts stehen,
was einer theoretischen Idee auch nur ähnlich sähe,
weniger noch, es wird gar nichts stehen; vielleicht
wird es eine Art Blitz gegeben haben, eine kurze Erhellung,
umgeben von nichts Signifikantem. Deswegen wird es auch
nicht unter dem Vorzeichen der Philosophie vorgetragen,
sondern unter deren Gegenteil: dem Philosophieren. Aber
selbst der starke Begriff der Philosophie darf es sich
leisten, auf mehr zu verzichten, wenn man ihn nur versteht,
wie etwa Hans Blumenberg: "Philosophie ist der
Inbegriff von unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen,
die unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit
ausgewählt worden sind. Sie sind dann auch nichts
anderes als Hypothesen, mit dem Unterschied, dass sie
keine Anweisungen für mögliche Experimente
oder Observationen enthalten, sondern ausschließlich
etwas verstehen lassen, was uns sonst als ganz und gar
Unbekanntes und Unheimliches gegenüberstehen müsste"[1].
Tritt sie unter diesem Vorbehalt an, so will Philosophie
überzeugen statt beweisen.
Ich halte Gilles Deleuze, neben dem späten
Heidegger und einem Dritten, dessen Namen ich in diesem
Zusammenhang verschweigen muss - denn er lebt noch und
könnte jedes Werturteil schon morgen widerlegen
-, ich halte Deleuze für den bedeutendsten und
einflussreichsten (das ist auch als Prognose zu verstehen)
Denker der Nachkriegsgenerationen, um so mehr, da sein
Schaffen mit dem Foucaults und Guattaris, vor allem
aber Foucaults, eng verzahnt ist, bei allen Differenzen
eine Art Komplex bildet. Das alles tut jedoch nichts
zur Sache.
Die Aussage Deleuzens, die ich, seit
ich sie las, nie wieder vergessen konnte, obwohl sie
nicht zu den wirklich einflussreichen Gedanken gehört,
eher banal, eher gut beobachtet als gut gedacht und
zudem noch nicht mal ganz und gar wahr und auch nicht
mehr ganz jung (1985) ist, lautet:
"In den Sportarten und Gewohnheiten
ändern sich die Bewegungen. Lange haben wir mit einer
energetischen Konzeption der Bewegung gelebt: Es gibt
einen Ansatzpunkt, oder aber man ist die Quelle einer
Bewegung: Laufen, Kugelstoßen etc.; das ist Anstrengung,
Widerstand, mit einem Ausgangspunkt, einem Hebel.
Heute sieht man jedoch, wie die Bewegung sich immer
weniger durch das Einschalten eines Angelpunktes definiert.
Alle neuen Sportarten – Surfen, Windsurfen, Drachenfliegen ...
– sind vom Typus: Einfügung in eine Welle, die schon
da ist. Hier wird nicht mehr vom Ursprung ausgegangen,
sondern von einer Bahn, auf die man gelangt. Wie kann
man sich von der Bewegung einer großen Woge annehmen
lassen, von einer aufsteigenden Luftströmung, wie
kann man ‚dazwischen gelangen‘, statt Ursprung einer
Anstrengung zu sein, das ist fundamental." [2]
Sie ist in ihrer Absolutheits- und Ausschließlichkeitsgeste
("alle neuen Sportarten") unwahr, inkorrekt,
denn zum einen gibt es zahlreiche neue Sportarten, die
diesem Typus nicht zuzurechnen sind, zum anderen ist
auch der neue Typus so neu nicht: Otto Lilienthal starb
hundert Jahre vor Deleuze schon beim Gleitfliegen und
frühere Weltumsegler bewunderten bereits im 17.
und 18. Jahrhundert mikronesische Wellenreiter bei ihrer
Kunst. In anderem Zusammenhang (Das
Tao des Schachs) haben wir gesehen, dass der Gedanke
selbst zu den ältesten philosophischen Beständen
der Menschheitsgeschichte gehört, die alten Meister
des Taoismus, die buddhistischen und hinduistischen
Gründerväter vertraten ihn und selbst Jesus
hatte eine Ethik des Nachgebens gepredigt (Mt. 12,13-17;
Lk. 20,20-26; Lk 5,29f u.v.a.). Und obwohl dieser Gedanke
seither parat, wenn auch selten präsent war, erschüttert
er, nicht zuletzt ob seiner Einfachheit, doch.
Man wird sich nun fragen können,
ob diese neue/alte, uralte Idee sich nicht auch im Schach
finden lasse. Wenn sie banal und althergebracht sein
sollte, so bitte ich dies zu entschuldigen, ich selbst
habe den Gedanken erst zweimal in der Schachliteratur
vorgefunden und beide Male in neuen Werken, die zudem
eines gemeinsam haben: sie sind, im obigen Sinne interessant,
mehr als wahr zumindest. Die Autoren der Bücher
gehen neue Wege, verlassen ausgetretene schachdidaktische-
und metaphysische Pfade.
Jeremy
Silman legte 1999 "The Amateurs Mind"
vor und versucht in diesem ungewöhnlichen Buch
nicht das quasi-perfekte Schachdenken der Profis vorzustellen,
wie dies Schmidt, Kotow, Pfleger/Treppner, Bouwmeester,
Nunn [3] und sicher noch
viele andere taten, sondern den Gedankenprozess des
blutigen Amateurs offen zu legen, um dessen Probleme
hinsichtlich des unbefriedigenden Endergebnisses zu
lösen. Denn wenn man davon absieht, wenn man also
nicht den Sieg oder den besten Zug oder dergleichen
Kriterien anlegt, so verblüffen mitunter die originellen
und schrägen Gedanken der Hobbyspieler, die in
einem anderen Zusammenhang den Perfektionismen vielleicht
sogar überlegen wären. Jedenfalls schreibt
Silman gleich zu Beginn: "A player cant do
anything he wishes to do. For example, if you love to
attack, you cant go after the enemy King in any
and all situations. Instead, you have to learn to read
the board and obey its dictate. If the board wants you
to attack the King, then attack it. If the board wants
you to play in a quiet positional vein, then you must
follow the advice to the letter" (Ein Spieler kann
nicht alles tun, was er möchte. Wenn du es zum
Beispiel liebst anzugreifen, dann kannst du nicht in
jeder Situation dem gegnerischen König nachsetzen.
Statt dessen hast du zu lernen, das Brett zu lesen und
seinen Anforderungen zu gehorchen. Wenn das Brett dich
den König angreifen sehen will, dann greife ihn
an. Wenn das Brett dich auffordert, in ruhiger positioneller
Stimmung zu spielen, dann musst du dem Hinweis aufs
Wort folgen.) [4].
Noch
weiter geht Jonathan Rowson in seinem sensationellen
und sicher nicht unumstrittenen [5]
Werk "The seven deadly chess sins". Die erste-
und Hauptsünde im Schach besteht bei ihm –
im Denken! Das ist ein ungeheuerlicher Gedanke innerhalb
des Diskurses über ein Denkspiel und er wird nur
unter den bereits genannten Äußerungen verständlich.
Denken heißt bei Rowson "gegen den Strom
denken", heißt "Anstrengung, Widerstand,
mit einem Angelpunkt, einem Hebel", heißt
vor allem – was Silman nur andeutete – Wille.
Der Wille als Ausgangspunkt ist fast immer falsch, man
muss vielmehr seinen Willen, sein Denken lassen und
sich dem "Willen der Situation" anschließen,
sich mit diesem vereinen und ihn zu dem seinen machen,
aber eben immer nur so lange, wie die Situation die
gleiche ist. "You just have to accept that the
position will transform from one thing into another"
(Du hast es einfach zu akzeptieren, dass die Stellung
sich von einer Situation in eine andere ändern
wird.) [6]. Das setzt die
richtige Bewertung der Situation selbstredend voraus.
(Kein Spieler der Weltklasse beweist dieses Prinzip
besser als Alexei Schirow: Dass es seine oft unflexible,
weil permanent zu aggressive Spielweise sei, die ihn
am großen Erfolg hindere, wie Harald Fietz nachzuweisen
versuchte, ist nur die halbe Wahrheit, sein wirkliches
Handicap ist seine größte Tugend; der Wille,
dem Brett seinen Gedanken aufzuzwingen statt sich vom
Brett leiten zu lassen.[7])
"My real aim is to try to explain and explore the
idea that all chess thinking is evaluative. I
have come to the opinion that evaluation is not a separate
thought-process which we suddenly switch into when deemed
important, but integral one which is the pilot of our
thoughts, and not just the pilot, but the co-pilot,
stewardess, meal, and view out the window" (Mein
eigentliches Ziel ist es, zu versuchen, die Idee, dass
alles Schachdenken bewertend/abschätzend ist, zu
erklären und zu entdecken. Ich bin zu der Überzeugung
gelangt, dass die Bewertung kein separater Denkprozess
ist, in den wir plötzlich umschalten, wenn wir
ihn für wichtig erachten, sondern ein umfassender
ist, als Pilot unseres Denkens und nicht nur Pilot,
sondern auch Copilot, Stewardess, Mahlzeit und Blick
aus dem Fenster") [8].
Damit erhält die alte Kammelle von der Intuition,
die man - und zu Recht - seit Jahrzehnten immer und
immer wieder herunterleiert, endlich einen verständlichen
Sinn für den Nicht-Top-Spieler; sie wird von Rowson
mit dem Konzept der Emotionalen Intelligenz verkoppelt.
Bislang war die Phrase für den durchschnittlichen
Schachspieler weitestgehend praktisch sinnlos, denn
die Intuition des Meisters setzte auch dessen Erfahrung,
Wissen, Können und Determination voraus, und wenn
jene dem Amateur intuitive Entscheidungen empfehlen,
dann wird nur deutlich, wie wenig sie sich noch in den
Denkprozess – der vor Jahren auch mal der ihre
war – hineinversetzen können. Rowson zitiert
Julian Hodgson, dessen schachliches Schaffen und sein
Stil der lebende Beweis für die Anwendbarkeit des
Gedankens sind, und bestätigt damit nur unsere
Einschätzung: "...that chess at the higher
levels is like a river in which you go
with the flow"(...dass Schach auf den
höheren Ebenen "wie ein Fluss ist", in
dem du "mit dem Strom schwimmst".) [9].
Aber mit der Welle reiten, heißt
tausendfach in sie gestürzt zu sein. Der relative
Wert der Aussage bleibt also: auch Wellenreiten will
mühsam erlernt sein.
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Gilles Deleuze
(1925-1995)
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--- Jörg Seidel, 09.01.2002 ---
[1]
Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt
1989. S. 22
[2] Gilles Deleuze: Unterhandlungen
1972 – 1990. Frankfurt 1993. S. 175
[3] Paul Schmidt: Schachmeister
denken. Praktische Einblicke in die Gedankenwelt des
Meisterspielers./ Alexander Kotow: Denke wie ein Großmeister/
Helmut Pfleger/Gerd Treppner: So denkt ein Großmeister/
Hans Bouwmeester: Schachtraining mit den Großmeistern/
John Nunn: Secrets of practical chess.
[4] Jeremy Silman: The Amateurs
Mind. Turning chess misconceptions into chess mastery.
Los Angeles 1999. S. 1
[5] siehe die Fundamentalkritik
von Colin Crouch: "Chess and Philosophy" in
Kingpin 34, S. 37-42
[6] Jonathan Rowson: The
seven deadly chess sins. London 2000. S. 59 – Man
fragt sich nur, woher er die Weisheiten hat, mit seinen
23 Jahren. In der Philosophie ist es wie beim Sex: zu
jungen und zu alten Stimmen sollte man misstrauen.
[7] Vgl. Harald Fietz: Verlieren
ist eine Frage der Methode oder warum Schirow ein zweiter
Keres werden kann. in: Rochade Europa 11/2001, S. 102-104
[8] Rowson S. 39
[9] ebd.
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