|
Alasdair MacIntyre:
Der Verlust der Tugend.
Es gehört
zum Charakter einer Tugend, dass sie ohne Berücksichtigung
der Folgen ausgeübt wird, damit sie mit Erfolg
die inhärenten Güter hervorbringen kann, die
der Lohn der Tugenden sind.
Das 1981 erschienene Werk "After
Virtue: A Study in Moral Theory des irischen Philosophen
Alasdair MacIntyre kann man bedenkenlos zu den modernen
Klassikern der Moralphilosophie zählen. In ihm
findet das Schachspiel mehrfach und an exponierter Stelle
Erwähnung.
Der folgende Artikel gliedert sich in
zwei Teile. Im ersten wird mit dem Inhalt des Buches,
seinen wesentlichen Aussagen und seiner inneren Logik
folgend, bekannt gemacht, insofern er für die nachfolgende
Untersuchung – der zweite Teil – der schachspezifischen
Fragen von Bedeutung ist. Dies schließt folgerichtig
eine gewisse Simplifizierung und Funktionalisierung
ein, aber es kann und wird hier nicht Ziel sein, MacIntyres
Werk kritisch und umfassend zu besprechen. Wo dies doch
geschieht, dort zumeist im willkürlichen, vor allem
schachlichen Zusammenhang oder aber um spielrelevante
Gedankengänge verstehbar zu machen.
Wie alle nachantike und nachchristliche
Moraltheorie, die ihren Tugendkatalog nicht mehr theologisch
begründen kann, die Gottes Existenz oder Kompetenz
oder Relevanz nicht mehr apriorisch setzen darf, beruft
sich auch MacIntyre auf eine willkürliche Prämisse,
die er mit einem Missstand begründet. Dabei handelt
es sich um die verwahrloste Sprache der Moraltheorie.
Demnach "besitzen wir heute nur noch Bruchstücke
eines Begriffsschemas, Teile ohne Bezug zu jenem Kontext,
die ihnen ihre Bedeutung verliehen haben" (15).
(Es ist aus argumentationslogischen Überlegungen
heraus interessant festzustellen, dass die nun folgende
auf 350 Seiten entwickelte Deszendenz- und Dekadenztheorie
bereits mit einem Verfallsargument beginnt.) Dies erkläre,
weshalb es in der Moderne keinen vernünftigen Weg
mehr gebe, moralische Übereinstimmung zu erzielen.
Moraltheorien können zwar in sich kohärent
sein, bleiben aber darüber hinaus inkompatibel
und diskursunfähig, da sie von diversen unvereinbaren,
aber nicht mehr anfechtbaren Prämissen ausgehen.
So könne etwa die Abtreibung mit einem Recht der
Person auf den eigenen Körper ebenso überzeugend
legalisiert werden, wie sie mit dem Argument des Tötungsverbots
kriminalisiert werden kann. Ursachen für diesen
Misstand sind u.a. die begriffliche Inkommensurabilität
und die Unanfechtbarkeit der jeweiligen Prämissen,
aus denen dann logisch schlüssige Argumente entstehen,
sind aber auch der unzulässige und oftmals unbe-
oder ungewusste Gebrauch von historisch kontextuierten
Begriffen, die wir implizit immer mitschleppen, und
ist schließlich der unhistorische Gebrauch von
Theorien, die aus ihrem Geschichtszusammenhang, aus
ihrer kulturellen und sozialen Umgebung, herausgelöst
werden – "Kant hört auf, Teil der Geschichte
Preußens zu sein, Hume ist kein Schotte mehr"
– wenn wir sie, die Moralphilosophen der Vergangenheit
wie Zeitgenossen behandeln. Dies alles gibt einer Zugangsweise
Vorlauf, die MacIntyre als "Emotivismus" beschreibt
- einst als philosophisches System entworfen - und die
heutzutage zum weitestgehend unreflektierten Usus gehört.
"Der Emotivismus lehrt, dass alle wertenden Urteile
oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck
von Vorlieben, Einstellungen und Gefühlen sind,
soweit sie ihrem Wesen nach moralisch oder wertend sind"
(26) [1].
Obig angesprochene Prämisse besagt
nun folgendes: Moral ist nicht mehr, was sie mal war,
und was einmal Moral war, ist größtenteils
verschwunden (39). Wir haben also einen kulturellen
Verlust und eine Rückentwicklung zumindest auf
moralischem Gebiet zu konstatieren und soll dieser irgendwie
rückgängig gemacht werden, so wird man nicht
umhin können, "die verlorene Moral der Vergangenheit
zu bestimmen und zu beschreiben und ihre Ansprüche
auf Objektivität und Autorität zu beurteilen"
(40).
Erste Zeugen des Dilemmas der moralischen
Unentscheidbarkeit waren Diderot ("Rameaus Neffe"),
vor allem aber Kierkegaard in "Entweder-Oder",
der in A und B ästhetisches und ethisches Paradigma
gegenüberstellt. Diese Autoren ziehen aber nur
die Summe aus dem Scheitern der geschichtsmächtigen
Aufklärung, insbesondere der Großentwürfe
Humes und Kants. Freilich liegt dieses Scheitern nicht
im persönlichem Versagen begründet, sondern
in der Aufgabe des Aristotelismus vor dem Hintergrund
der von ihnen selbst unaufgeklärt gebliebenen geistigen
Wurzeln und innerster Überzeugungen, namentlich
des Christentums: moralische Urteile in dieser Tradition,
so MacIntyre, sind "sprachliche Überreste
der praktischen Anwendung des klassischen Theismus,
die den durch diese praktische Anwendung gebildeten
Kontext verloren haben" (86) [2].
Die Befreiung der moralischen Entscheidung
von der Teleologie und Hierarchie durch die Aufklärung
führt den moralisch Handelnden in ein Dilemma:
dass er sich einerseits als souverän in seiner
moralischen Autorität betrachtet, andererseits
für die moralischen Regeln einen neuen Status finden
muss, "da ihnen ihr alter teleologischer und ihr
noch älterer kategorischer Charakter" genommen
wurde – welches insbesondere vom Utilitarismus
und nachkantischen Vernunft- und Diskursphilosophien
zu lösen versucht wurde, wenn auch, so der Kritiker,
erfolglos. Deren Zentralbegriffe "Nützlichkeit",
"Recht" und "Gerechtigkeit" stellen
moralische Fiktionen dar (95). Sofern diese jedoch als
Prämissen (und/oder Ziele) ganzen Argumentationssträngen
dienen, sind unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten
unvermeidlich und unlösbar. Innerhalb eines solchen
Begriffssystems ist Wahrheit noch relevant, in der Interaktion
allerdings wird sie a priori unerreichbar.
Um diesen Konflikt vermeiden zu können,
hülfe nur ein Weg: sich der wahren Bedeutung der
ersten systematischen Moralphilosophie bewusst zu werden
- des Aristotelismus -, diesen in seiner Entstehung
und seinen historischen Wandlungen zu begreifen, die
Bedeutung seiner Kategorien zu Aristoteles Zeiten
und allen nachfolgenden zu vergegenwärtigen, denn
schließlich wurzelt hier unser moralisches Vokabular.
Ein langer und beschwerlicher Umweg ist von Nöten,
dessen Hauptstationen die Tugendbegriffe in der heroischen
Gesellschaft, in Athen, bei Aristoteles und der mittelalterlichen
aristotelischen Tradition, der Renaissance lägen.
Die kolossale Schwierigkeit wird evident, wenn man sich
klar macht, dass allein für Athen wenigstens vier
Sichtweisen zu berücksichtigen seien: die sophistische,
die platonische, die aristotelische und die tragische
(182) – und Athen ist keinesfalls mit Griechenland
gleichzusetzen! Wenn MacIntyres Analyse also zwingend
wäre, so stünde eine schier unermessliche
philosophisch-historische Neubesinnungsarbeit vor uns.
Sie wäre zumindest insofern ertragreich, als sie
den partiell illusionären Charakter unserer Moralvorstellungen
aufzeigen könnte, der sich in unauflösbare
Aporien verwickelt. Er, der Autor selbst, leistet sie
nicht oder nur andeutungshalber an so marginalen Tugendkatalogen,
wie dem Jane Austens (aber das zeigt nur die Größe
der Aufgabe), und dies ist sicherlich ein entscheidender
Punkt, weshalb das Buch auf viele Leser unbefriedigend
wirkt: es beklagt, möglicherweise zu recht, den
Verlust der Tugend, stellt aber keine oder nur allervageste
Anhaltspunkte zur Verfügung, einen neuen Tugendkatalog
zu entwerfen [3] und kümmert
sich auch nicht um die Widerlegung des postmodernen
und modischen Verdachts, dass eine konsistente Tugendlehre
in einer pluralistischen, fraktalen Welt gar nicht mehr
möglich oder sinnvoll sei.
Gibt es trotzdem eine "Kernvorstellung"
– trotz der scheinbar unvereinbaren Vorstellungen
– von Tugend (250ff.)? MacIntyre bejaht und begründet
dies mit der Überlegung, dass es zur Anwendung
einer Tugendvorstellung "stets der Annahme einer
vorgängigen Darstellung bestimmter Merkmale des
sozialen und moralischen Lebens bedarf, in dessen Sinne
sie definiert und erklärt wird", sie wird
von einer solchen prädominiert. Um sie herauszuarbeiten
gilt es, "drei Abschnitte in der logischen Entwicklung
dieser Vorstellung" zu bestimmen und jeder dieser
Abschnitte hat seinen eigenen begrifflichen Hintergrund.
"Der erste Abschnitt verlangt eine Hintergrunddarstellung
dessen, was ich Praxis nennen werde, der zweite eine
Darstellung dessen, was ich bereits als narrative
Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens charakterisiert
habe, und der dritte eine deutlich umfassender Darstellung
dessen, was eine moralische Tradition ausmacht"
(250, Hervorhebung J.S.).
Den Begriff der Praxis will er dabei
besonders definiert wissen – die Definition ist
hier anzuführen, weil sie bestimmte schachbezogene
Aussagen kontextiert: "Mit Praxis meine
ich jede kohärente und komplexe Form sozial begründeter,
kooperativer menschlicher Tätigkeiten, durch die
dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter
im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe
der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von
Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert
sind, mit dem Ergebnis, dass menschliche Kräfte
zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen
der involvierten Ziele und Güter systematisch erweitert
werden" (251f.).
Innerhalb einer Praxis kann man zwei
Arten von Güter (Plural von "das Gut")
erreichen: inhärente und äußerliche.
Letztere, mit der Praxis verbundene Besitztümer
und Nebeneffekte sind für den Tugenderwerb irrelevant,
allein auf die inhärenten Güter kommt es an,
denn sie sind das "Ergebnis eines Wettbewerbs:
vortrefflich zu sein". Eine Tugend wird demzufolge
in einer ersten definitorischen Annäherung bestimmt
als "eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren
Besitz und Ausübung uns im Allgemeinen in die Lage
versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis
inhärent sind und deren Fehlen wirksam verhindert,
solche Güter zu erreichen" (256). MacIntyres
Praxisbegriff wird nachfolgend im Schachzusammenhang
noch konkretisiert. An dieser Stelle ist lediglich noch
die Relativierung belangvoll, denn aus der Tatsache,
dass Tugenden sich nur im Zusammenhang mit Formen der
Praxis erklärt werden können, folgt nicht
die Annahme, alle Praxisformen wären tugendhaft
oder auch nur moralisch anstrebenswert.
Der zweite Abschnitt der logischen Entwicklung
der Tugendvorstellung, die narrative Ordnung eines einzelnen
menschlichen Lebens, beinhaltet die Einsicht, "das
Selbst als narrative Form zu denken" (275). Dies
bedeutet zum einen: "die Einheit einer Tugend im
Leben eines Menschen ist nur als eine Eigenart eines
einheitlichen Lebens verständlich, eines Lebens,
das als Ganzes begriffen und bewertet werden kann",
zum anderen, die jeweilige narrative Einordnung einer
Handlung in einen Sinn und Motivations- und Überzeugungszusammenhang.
Um eine bestimmte Handlung moralisch einordnen zu können,
muss man sie strukturell in einen Kontext bringen: Ursache,
Ziel etc., vor allem aber Intention des Handelnden,
sprich, man muss die Geschichte dieser Handlung erzählen
und verstehen können. Die Einheit eines individuellen
Lebens besteht in der Einheit einer in einem einzigen
Leben verkörperten Erzählung (292). "Die
Tugenden müssen daher als die Dispositionen verstanden
werden, die nicht nur die Praxis aufrecht erhalten und
uns befähigen, die der Praxis inhärenten Güter
zu erlangen, sondern die uns auch bei der relevanten
Art von Suche nach dem Gut unterstützen
Wir
sind somit zu einer vorläufigen Schlussfolgerung
über das gute Leben für den Menschen gekommen:
Das gute Leben für den Menschen ist das Leben,
das in der Suche nach dem guten Leben für den Menschen
verbracht wird, und die für die Suche notwendigen
Tugenden sind jene, die uns in die Lage versetzen, zu
verstehen, worin darüber hinaus und worin sonst
noch das gute Leben für den Menschen besteht"
(293).
Von hier aus ist der Schritt zum dritten
Abschnitt, der Tradition, zwangsläufig, denn die
je individuelle Geschichte ist in größere
Geschichten eingebettet, "in die Geschichte jener
Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite
(295). Identifiziere ich mich z.B. als Deutscher, so
ist es mir – auch als Spätgeborener - nicht
mehr möglich zu meinen, dass die Verbrechen der
Nazis (als Deutsche – MacIntyre freilich macht
diese m.E. wesentliche Differenzierung nicht) moralisch
belanglos für meine Beziehung etwa zu meinen jüdischen
Zeitgenossen sein können, denn das Selbst kann
nicht von seinem sozialen und historischen Status gelöst
werden. Allerdings scheint MacIntyre die nahezu paradoxe
Komplexität dieses Gedankenganges zu unterschätzen.
Wenn denn stimmt: "Ich bin daher zu wesentlichen
Teilen das, was ich erbe, eine spezifische Vergangenheit,
die in gewissem Umfang in meiner Gegenwart gegenwärtig
ist. Ich sehe mich als Teil einer Geschichte, und das
heißt ganz allgemein, als einer der Träger
einer Tradition, ob mir das gefällt oder nicht"
(295), dann wäre ich z.B. als Deutscher nicht nur
Teil der Geschichte der deutschen Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern eben auch
Teil etwa der Geschichte der Sühne und Widergutmachung
ad infinitum; kurz: Geschichte ist nicht linear zu denken,
sondern eine Geschichte setzt viele Geschichten voraus
und fort. Gleiches gilt für die Geschichte der
Tugend: Voraussetzung für Tugend ist also schon
immer eine (oder eben mehrere) Tugend, "die Tugend,
das adäquate Gefühl für die Traditionen
zu haben, denen man angehört oder die einem gegenübertreten"
(297).
Im abschließenden Kapitel rekapituliert
MacIntyre noch einmal die missliche Lage der heutigen
Moral, die besondere Rolle, welche der Aristotelismus
darin spielt, der, wenn auch nur als fragmentarischer
Rest und kategoriales Selbstbedienungsdepot noch immer
die modernen – d.i. die ungenügenden und gescheiterten
- Moralphilosophien begründet und verweist darauf,
dass Überwindungsversuche, etwa der Nietzsches,
ebenfalls als gescheitert gelten müssen, woraus
er erneut schließt, dass die "aristotelische
Tradition auf eine Weise neu formuliert werden"
müsse, "die die Verständlichkeit und
Rationalität unserer moralischen und sozialen Handlungen
und Verpflichtungen wieder herstellt" (345). Die
Zeit, dies zu versuchen, sei endgültig gekommen.
Solange dies jedoch nicht geschehen sei, bliebe vor
allem, schließt er in seltsam orakelndem Ton,
"die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft,
in denen die Zivilisation und das intellektuelle und
moralische Leben über das neue finstere Zeitalter
hinaus aufrecht erhalten werden können, das bereits
über uns gekommen ist" (350) [4].
Die erste Erwähnung des Schachs
in MacIntyres Buch besitzt zwar nur Beispielcharakter,
ist also für das Schach selbst nur von sekundärem
Interesse und könnte ebenso durch ein anderes Beispiel
ersetzt werden, da sie aber einen an-sich-bedenkenswerten
Punkt berührt, der von größerer Tragweite
ist, soll sie nicht unbesprochen bleiben. Wir hatten
andeutend bereits gesehen, wie das Scheitern der Aufklärung
mitverantwortlich für den Verlust der Tugendbegriffe
gemacht wurde, wie "die Blinden ihr eigenes Sehvermögen
bejubelten". Diese Blindheit wird weitergereicht;
ein Resultat der Aufklärung ist die Entstehung
der Sozialwissenschaften, die als Substituten für
verlorengegangene ethische Territorien fungieren sollten.
Will MacIntyre seinen Anspruch auf die Notwendigkeit
der Wiederbelebung der klassischen aristotelischen Ethik
begründen, so muss er u.a. den Anspruch der Sozialwissenschaften,
diesen Bereich adäquat abdecken zu können,
in Frage stellen und zeigen, dass sie ethischen Ansprüchen
nicht genügen. Damit jedoch gibt er sich nicht
zufrieden, vielmehr spricht er den Sozialwissenschaften
ihren Wissenschaftscharakter vollends ab und zwar weil
diese nie zu gesetzesgleichen Verallgemeinerungen und
gültigen Prognosen gelangen können, ein Ziel
übrigens, welches sich die Sozialwissenschaften
selbst stellen und zur Selbstlegitimation nutzen [5].
Die unmittelbare Brisanz ist deutlich: "Wenn die
Sozialwissenschaft ihre Erkenntnisse nicht in Form gesetzesgleicher
Verallgemeinerungen vorlegt, werden natürlich die
Gründe, Sozialwissenschaftler als Berater von Regierungen
oder Privatunternehmen zu beschäftigen, uneinsichtig,
und die bloße Vorstellung des Expertentums der
Manager ist gefährdet" (124). Natürlich
wäre es ein Leichtes, sozialwissenschaftliche Irrtümer
empirisch nachzuweisen, aber so unterhaltend dies auch
wäre, so unbefriedigend bliebe es aus logischer
und wissenschaftstheoretischer Sicht. Folglich muss
ein systematisches Versagen nachgewiesen werden und
dies findet MacIntyre in der Eliminierung des Zufallsfaktors.
Deshalb sei Machiavelli noch heute aktuell, weil er,
trotz des Zieles der Voraussagbarkeit, das Element der
"fortuna" nicht kategorisch ausschloss. Darüber
hinaus – dies ist das Zentralargument mit an-sich-Bemerkenswertigkeit
– gibt es "in menschlichen Angelegenheiten
vier Quellen systematischer Unvoraussagbarkeit".
Erstens, hier folgt er Popper, können radikale
Neuerungen nicht vorausgesagt werden. In der Altsteinzeit
z.B. hätte niemand die Erfindung des Rades voraussagen
können, da die Voraussage inklusive der Begriffsbildung
("Rad"), die Erfindung selbst immer schon
voraussetzt. Daraus ergibt sich die "konsequente
Unvoraussagbarkeit der Wissenschaft", ein Wissen,
das in der modernen Gesellschaft unabdingbar wäre,
um gesellschaftliche Voraussagen sinnvoll treffen zu
können. (129ff.).
"Die zweite Art systematischer Unvoraussagbarkeit
folgt aus der Weise, in der die Unvoraussagbarkeit bestimmter
zukünftiger Handlungen für den jeweiligen
Handelnden ganz individuell ein weiteres Element der
Unvoraussagbarkeit an sich in der sozialen Welt schafft"
(132). Solange jemand sich noch nicht für eine
Alternative entschieden hat, kann er nicht voraussagen,
für welche er sich entscheiden wird. Könnte
er das, dann hätte er sich bereits entschieden.
Zwar könnte theoretisch "ein hinreichend informierter
Beobachter" jemandes Entscheidung voraussagen,
aber da dieser Beobachter, aus denselben Gründen,
seine eigene Zukunft, seine eigenen Entscheidungen nicht
voraussagen kann und er daher nicht voraussagen kann,
inwieweit seine Entscheidungen die anderer Menschen
beeinflussen werden, inklusive derjenigen, dessen Zukunft
er voraussagen könnte, führt diese Überschneidung
zur prinzipiellen Unmöglichkeit auch dieser Voraussage.
"Dass ich meine Zukunft nicht voraussagen kann,
erzeugt tatsächlich ein bedeutsames Maß an
Unvoraussagbarkeit an sich" (133). Um dem vorauszusehenden
Vorwurf, dass die Prämisse – wenn ich mich
noch nicht entschieden habe, welche Alternative ich
wähle, so kann ich nicht voraussagen, für
welche ich mich entscheiden werde – in Frage gestellt
werden könnte, entwickelt MacIntyre ein Gegenbeispiel,
in dessen Ergebnis er zur Umformulierung der Prämisse
gelangt um sie somit auch für den Zweifelnden verdaulich
zu machen:
"Ich bin ein Schachspieler, und
mein eineiiger Zwillingsbruder ebenfalls. Aus Erfahrung
weiß ich, dass wir im Endspiel bei der gleichen
Stellung auf dem Brett immer dieselben Züge machen.
Ich überlege, ob ich in einer Endspielsituation
meinen Springer oder meinen Läufer ziehen soll,
als jemand zu mir sagt: Gestern war Ihr Bruder
in derselben Lage. Ich kann nun voraussagen,
dass ich denselben Zug machen werde, den mein Bruder
gemacht hat. Hier liegt also sicher ein Fall vor,
in dem ich eine meiner zukünftigen Handlungen
voraussagen kann, die von einer noch nicht getroffenen
Entscheidung abhängt. Aber der springende Punkt
ist, dass ich meine Handlung nur voraussagen kann
mit der Angabe derselbe Zug wie der, den mein
Bruder gestern gemacht hat, aber nicht mit der
Angabe ziehe den Springer oder ziehe
den Läufer. Dieses Gegenbeispiel führt
daher zu einer Umformulierung der Prämisse: ich
kann meine zukünftigen Handlungen nicht voraussagen,
sofern sie von Entscheidungen abhängen, die ich
noch nicht getroffen habe – mit den Angaben,
die die Alternativen nennen, die die Entscheidung
definieren. Und die so umformulierte Voraussetzung
ergibt die entsprechende Schlussfolgerung über
die Unvoraussagbarkeit als solche" (133f.).
Der Vollständigkeit halber sollen
auch die letzten beiden Quellen systematischer Unvoraussagbarkeit
erwähnt werden. Die eine, die dritte, entspringt
"dem spieltheoretischen Wesen des sozialen Lebens"
in der sozialwissenschaftlichen Reflexion, das vor allem,
aber nicht nur, an der unübersehbaren Komplexität
von "Transaktionen" und der Offenheit/Unbestimmtheit
jeder Situation scheitert – "Es wird nicht
ein Spiel gespielt, sondern mehrere, und, um die Spielmetapher
noch weiter auszudehnen, das Problem im wirklichen Leben
ist, dass ein Zug des Springers nach B3 immer mit einem
Lob über das Netz beantwortet werden kann"
(136). Beim anderen, dem vierten handelt es sich um
den "reinen Zufall", das unabsehbare Einwirken
äußerer Einflüsse.
Ein zweites Mal wird das Schachspiel
auf einem der vielen Seitenpfade analogisch genutzt.
MacIntyre, nachdem er die Frage "Nietzsche oder
Aristoteles?", also "Umwertung aller Werte",
Schaffung neuer Werte oder Begreifen der alten Werte
zugunsten des antiken Denkers entschied, sieht sich
nun der Aufgabe gegenüber, Entstehung und historische
Wandlung des Aristotelismus zu verfolgen und beginnt
folgerichtig dort, wo das griechische Denken seine tiefsten
Wurzeln hat, in der heroischen Gesellschaft und deren
Geschichte. Die Notwendigkeit ergibt sich auch aus der
einfachen Tatsache, dass in klassischen Kulturen "das
wichtigste Mittel der moralischen Erziehung das Erzählen
von Geschichten war" (163), nicht zuletzt eben
der heroischen Geschichten, die den "moralischen
Hintergrund für zeitgenössische Streitgespräche"
bildeten. Um klassische und moderne Gesellschaften verstehen
zu können, ist das Verständnis der heroischen
Gesellschaften notwendig. Diese wiederum zeichnen sich
durch einen beneidenswert festen Wertekatalog aus, über
den sich das Individuum problemlos – dort, wo die
Einschränkung gilt, begann das tragische Zeitalter
(Sophokles) – identifizieren konnte. Sein und Tun,
Sollen und Tun waren identisch. Der Mensch war das,
was er tat und aus seinem Tun ließ er sich vollständig
erklären. Ins Große gewendet: "Moral
und soziale Struktur sind in der heroischen Gesellschaft
ein- und dasselbe" (166). Diese Identität
wird nun ausgerechnet durch den Erzähler zerstört,
der zur ersten problematischen Gestalt wird, "
denn es steht fest, dass der Dichter oder der Verfasser
der Saga für sich eine Art Verständnis beansprucht,
das den Gestalten, über die er schreibt, verwehrt
wird" (168). Unter Erzähler ist hierbei selbstverständlich
nur derjenige zu verstehen, der den Überblick beansprucht,
etwa, ganz paradigmatisch, Homer. Die Geschichten, die
sich die homerischen Gestalten erzählt haben mochten,
sind problemlos, denn sie verlassen den Rahmen der eigentlichen
Geschichte in die sei eingebettet sind, nicht, sie sind
lediglich Teil dieser, sie konstituieren sie aber konstruieren
sie nicht. Innerhalb dieser Geschichte gehen sie vollständig
auf, sie wissen "was sie einander schuldig sind"
und ihr Verhalten ist vollständig konsistent und
luzid. Um den Sachverhalt deutlich zu machen, gebraucht
MacIntyre eine "gefährliche, aber aufschlussreiche
Analogie" zum Schach.
"Die Regeln, die Handlung und
Werturteil in der Ilias bestimmen, ähneln
den Regeln und Vorschriften eines Spiels wie dem Schach.
Es ist eine Frage der Tatsachen, ob jemand ein guter
Schachspieler ist, ob er gute Endspielstrategien entwerfen
kann, ob ein Zug in einer bestimmten Situation der
richtige Zug ist. Schach setzt Übereinkunft darüber
voraus, wie man Schach spielt, ja es besteht zum Teil
aus dieser Übereinkunft. In der Schachsprache
ist es unsinnig zu sagen: Das war der absolut
einzige Zug, der ein Schachmatt erreichen könnte,
aber war es richtig, diesen Zug zu machen? Daher
müsste jemand, der so etwas sagt und versteht,
was er sagt, einen Begriff von richtig
verwenden, der seine Definition außerhalb des
Schachspiels erhält; so könnte dies jemand
fragen, dessen Ziel es beim Schachspielen ist, eher
ein kleines Kind zu belustigen als zu gewinnen"
(168).
Der Gewinn des "Außen"
(ein Begriff, der in der modernen und postmodernen Philosophie
noch viel stärker betont wird, der aber bereits
im homerischen Epos oder anderen heroischen Epen, wie
z.B. der Edda, wurzelt) ist somit – erst mal wertneutral
– Ursache (manche würden auch "Schuld"
sagen) für den Verlust der Tugend im Sinne des
Nicht-mehr-Wissen, was in bestimmten Situationen zu
tun sei, was gefordert ist, gegründet auf einer
sicheren Einordnung in einen übersichtlichen und
nicht erklärungs- und begründungsbedürftigen
Wertzusammenhang. Verlässt der Spieler die Immanenz
des Schachspiels – um bei der Analogie zu bleiben
-, so werden Wertbegriffe wie "richtig", "gut",
"schlecht", "schön" etc. plötzlich
problematisch. Strukturell Vergleichbares geschieht
mit mythischen oder religiösen Urtexten, die auch
heute noch im innersten Zentrum unserer Diskurse stehen.
Erst wenn sie reflektiert werden, wenn man über
sie nachdenkt, werfen sie Entscheidungsprobleme auf.
Einerseits bringt diese Reflexion alles Unheil –
in Form von Konflikten – mit sich, andererseits
den lebendigen Reichtum, den wir heute als positiven
Wert begreifen.
MacIntyre hält die Schachanalogie
für gefährlich, weil sie aus einer Leichtigkeit
stammt, die den heroischen Gestalten nicht gegeben war:
Wir spielen Schach zu verschiedenen Zwecken, aber es
hat keinen Sinn zu fragen, zu welchem Zweck (präreflektive,
immanente) Gestalten, etwa die Gestalten der "Ilias",
Regeln und Gebote beachten und befolgen. "Jede
Wahl entsteht innerhalb des Systems, das System selbst
kann nicht gewählt werden". Die wesentlichste
Differenz "zwischen dem emotivistischen Selbst
der Moderne und dem Selbst des heroischen Zeitalters"
sieht der Philosoph in der "Fähigkeit, sich
selbst von jedem Standpunkt oder jeder Ansicht zu lösen,
gewissermaßen einen Schritt zurückzutreten,
und diesen Standpunkt oder diese Ansicht von außen
zu betrachten und zu beurteilen" (169), eine Möglichkeit,
die den Menschen des heroischen Zeitalters nicht gegeben
war, aber es wird nicht ganz klar, weshalb man nicht
auch die Geschichte des modernen Menschen, der glaubt,
"sich selbst von jedem Standpunkt oder jeder Ansicht"
lösen zu können, nicht unter demselben Vorzeichen
einer Illusion sich wird erzählen können?
Man sieht leicht den zirkulären Charakter des Arguments.
Ein drittes Mal kommt MacIntyre in seinem
zentralen Kapitel, dem vierzehnten, "Das Wesen
der Tugenden", auf das Schachspiel zu sprechen,
und wenn es auch hier lediglich als Beispiel und als
Erläuterungsschema fungiert, so lassen sich diesmal
doch wesentliche Aussagen rückschließen,
die für eine Philosophie des Schachs von großer
Bedeutung sind. Sie werden, denkt man sie weiter, aufschlussreiche
Überlegungen sowohl über die innere Energie,
den Faszinationshaushalt des Spiels offen legen, und
Anlass geben, über gewisse Entwicklungen in der
professionellen und kommerziellen Schachwelt kritisch
nachzudenken.
Mehrfach bereits wurde auf die Vielzahl
der Tugendvorstellungen hingewiesen, die im Laufe der
Geschichte ihren jeweiligen Platz behauptet haben. Oftmals
sind die Differenzen derart eklatant, dass diese Vorstellungen
als unvereinbar zu gelten hätten, wenn es denn
nicht gelänge, einen gemeinsamen Kernbereich freizulegen.
MacIntyre geht von mindestens drei grundverschiedenen
Tugendbegriffen aus; a) dem homerischen, in dem die
Tugend jene Eigenschaft ist, die dem einzelnen gestattet,
seine soziale Rolle zu spielen, b) den aristotelischen,
in dem die Tugend den einzelnen in die Lage versetzt,
das menschliche Ziel (Telos) zu verwirklichen und c)
den utilitaristischen, in dem Tugenden nützlich
sind, um (himmlischen oder irdischen) Erfolg zu haben.
Neben der "narrativen Ordnung" und der "Tradition"
ist es vor allem die "Praxis", die eine Kernvorstellung
der Tugend konstituiert. Ihr ist daher das Hauptaugenmerk
gewidmet (s.o.). Der Philosoph versteht darunter jene
Tätigkeiten, in deren Verlauf inhärente Güter
verwirklicht werden. "Schiffe-Versenken ist kein
Beispiel für Praxis in diesem Sinn, und auch das
geschickte Werfen des Balles beim Football nicht; aber
das Footballspiel selbst ist ein Beispiel, und das Schachspiel
auch" (252). Inhärente und äußerliche
Güter, als Gegensätze, müssen verstanden
werden. Erstere loten die inneren Möglichkeiten
einer Tätigkeit aus, wohingegen letztere sich in
der Regel als reiner Besitz artikulieren (Gegensatz
von Sein und Haben), etwa als Ruhm oder Geld. Nachfolgende
Passage (Hervorhebung J.S.) bildet das Herzstück
für den schachinteressierten Leser und nicht nur
für ihn:
"Nehmen wir das Beispiel eines hochintelligenten,
siebenjährigen Kindes, dem ich das Schachspielen
beibringen möchte, obwohl das Kind kein besonderes
Verlangen danach hat, das Spiel zu erlernen. Das Kind
hat jedoch großes Verlangen nach Süßigkeiten
und kaum eine Gelegenheit, dieses Verlangen zu stillen.
Ich sage dem Kind daher, dass ich ihm für eine
Mark Süßigkeiten schenke, wenn es einmal
in der Woche Schach mit mir spielt; außerdem
sage ich ihm, dass ich so spielen werde, dass es für
das Kind schwer, aber nicht unmöglich sein wird,
zu gewinnen, und dass es, wenn es gewinnt, zusätzlich
Süßigkeiten im Wert von einer Mark bekommt.
Auf diese Weise motiviert, spielt das Kind und spielt,
um zu siegen. Aber solange nur die Süßigkeiten
dem Kind einen guten Grund zum Schachspielen liefern,
hat es keinen Grund, nicht zu betrügen, aber
allen Grund zu betrügen, vorausgesetzt, es ist
dazu in der Lage. Es wird jedoch, so können wir
hoffen, eine Zeit kommen, in der das Kind in den
schachspezifischen Gütern – im Erreichen
einer gewissen hochspezialisierten Art von analytischem
Geschick, strategischer Vorstellungskraft und Kampfstärke
– neue Gründe findet; Gründe dafür,
nunmehr bei einer bestimmten Gelegenheit nicht einfach
zu gewinnen, sondern sich darin hervorzutun, was das
Schachspiel verlangt. Wenn das Kind jetzt betrügt,
schlägt es nicht mich, sondern sich.
Es gibt zwei Arten von Gütern,
die möglicherweise im Schachspiel erreicht werden
können. Zum einen gibt es Güter, die äußerlich
und zufälligerweise mit dem Schachspiel und anderen
Praxisarten durch Zufälle innerhalb der sozialen
Umgebung verbunden werden – im Falle des
vorgestellten Kindes die Süßigkeiten, im
realen Fall für Erwachsene Güter wie Prestige,
Status, Geld. Es gibt immer alternative Wege, solche
Güter zu erreichen, und ihre Erlangung ist niemals
ausschließlich an eine bestimmte Praxis gebunden.
Auf der anderen Seite stehen Güter, die der
Praxis des Schachspiels inhärent sind; sie können
nur durch das Spielen dieses oder eines anderen Spiels
dieser Art erreicht werden. Wir bezeichnen sie
aus zwei Gründen inhärent: erstens können
wir uns sie nur
in Kategorien des Schachs oder
eines anderen Spiels dieser speziellen Art und mit
Hilfe von Beispielen aus solchen Spielen spezifizieren
;
zweitens können sie nur durch die Erfahrung der
Teilnahme an der betreffenden Praxis bestimmt und
erkannt werden. Wer nicht über die entsprechende
Erfahrung verfügt, ist daher nicht fähig,
über inhärente Güter zu urteilen"
(252f.).
Für die Tugendlehre sind die sich
daraus ergebenden Schlussfolgerungen doppelt interessant.
Einerseits entpuppen sich Tugenden als untrennbare Bestandteile
einer Praxis mit inhärenten Gütern, andererseits
sind sie selbst Resultat einer solchen geglückten
Praxis; sie bedingen sich wechselseitig. Um die inhärenten
Güter einer Praxis zu erreichen, muss ich mich
deren "Maßstäben für die Vortrefflichkeit"
unterordnen, die wiederum historisch und als Wettbewerb
festgelegt werden, d.h. man muss sich mit der Geschichte
der Praxis aktiv auseinandersetzen – dies verleiht
die Urteilsfähigkeit – und sich an den Besseren
messen. Wenn ich nicht in der Lage bin, die Überlegenheit
anderer zu akzeptieren, die besser wissen, welcher Zug
in einer bestimmten Situation der bessere ist, werde
ich nie in der Lage sein, selbst einen richtigen Zug
einzuschätzen oder gar spielen zu können.
Diese Einordnung ist bereits ein tugendrelevanter Akt:
"Es gehört zum Begriff der Praxis
, dass
ihre Güter nur dadurch erlangt werden können,
dass wir uns in dieser Praxis in unserem Verhältnis
zu anderen Beteiligten einordnen. Wir müssen lernen
zu erkennen, was wem zusteht" (256).
Mit seiner zentralen Aussage, das sei
in Parenthese angefügt, wird die Lauterbarkeit
des behavioristischen Konzepts angezweifelt, das eben
nur rein äußerlich Menschen erziehen kann
und mutmaßlich auch nur äußerliche
Menschen erzieht. Nur dort, wo die inhärenten spezifischen
Güter eine Eigendynamik entwickeln, kann die jeweilige
Praxis zur moralischen Vervollkommnung dienen. Die behavioristische
Idee der positiven Stimulans oder der operativen Konditionierung
mag als Einstieg in einen Erziehungs- und Lernprozess
ein möglicher Weg sein, aber sie wird, verabsolutiert,
nie zur Erlangung inhärenter Güter befähigen,
falls diese nicht ihre Eigendynamik entfalten und falls
die jeweilige Person nicht die notwendige kognitive,
emotive und empirische Weite besitzt, diese Eigendynamik
zu erfassen. Der prominenteste Fall im Schachkomplex
dürfe das Lebendexperiment Laszlo Polgars mit seinen
drei Töchtern sein, das Beispiel gemacht hat und
zu mehr oder weniger kompetenter Nachahmung inspirierte;
im heutigen deutschen Nachwuchsbereich muss man bei
einigen "Talenten" befürchten, dass es
ihnen, aufgrund fehlender Aufnahmemöglichkeiten,
verwehrt ist und sein wird, die inhärenten Güter
des Schachs zu erreichen, seien sie auch noch so erfolgreich.
Fast ist es banal, auf die Vielfalt von Praktiken hinzuweisen,
deren spezifische inhärente Güter denen des
Schachs gleichwertig oder gar überlegen sind und
die in monokulturellen Erziehungsprojekten zudem verloren
gehen.
Umgekehrt muss man sich fragen, ob die
heute Erfolgreichen tatsächlich die inhärenten
Güter des Schachs assimiliert haben oder ob nicht
Geld und Ruhm als äußere Güter die wahre
Triebfeder einiger (professioneller) Spieler sein könnten.
Es gibt freilich gute Gründe anzunehmen, dass lediglich
Spieler mit ausgeprägter Sensibilität für
inhärente Güter tatsächlich in der Lage
sind, im spieltechnischen Spitzenbereich mitzuhalten,
auch wenn diese Konstitution durch die Dominanz äußerer
Güter mitunter verdrängt wird. Beides kann
sich überlappen, ein Faktum, das in MacIntyres
Betrachtung sicherlich zu kurz kommt. Man wird gerade
die Grenzphänomene, Spieler wie Morphy, Aljechin,
Fischer und Kasparow nicht begreifen können, wenn
man das Zusammenspiel von inhärenten und äußeren
Gütern vernachlässigt. Aber sie hätten
nie und nimmer werden können, was sie wurden, wenn
sie nicht die innere Faszination des Schachs wie nur
wenige erfassten und vielleicht sogar überinterpretiert
hätten. Gerade darin liegt ihre moralische Ambivalenz
begründet und diese wiederum macht sie nicht nur
als Schachspieler bedeutend, denn obwohl sie die inhärenten
Güter radikalisierten, dürften sie schwerlich
für MacIntyres Kriterium in Frage kommen:
"Wir müssen mit anderen Worten
die Tugenden der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der
Ehrlichkeit als notwendige Bestandteile jeder Praxis
mit inhärenten Gütern und Maßstäben
für Vortrefflichkeit akzeptieren. Denn dies nicht
zu akzeptieren, bereit zu sein, zu betrügen, wie
unser fiktives Kind am Anfang bereit war, beim Schachspiel
zu betrügen, verwehrt uns insofern, die Maßstäbe
für Vortrefflichkeit oder die der Praxis inhärenten
Güter zu erreichen, als die Praxis dadurch außer
als Mittel zur Erreichung äußerlicher Güter
sinnlos wird" (256).
Tatsächlich warnt er wenig später
davor, die beiden Bereiche zu vermischen und man kann
diese Warnung nicht deutlich genug unterstreichen, gehört
es doch noch immer zum, vermutlich wahrnehmungspsychologisch
zu begründenden Usus, technische Fertigkeiten mit
moralischen Eigenschaften zu korrelieren. Jemand, den
wir für eine Fähigkeit bewundern, eine spezielle
Ausführung, trauen wir instinktiv auch auf andern
Gebieten zu, kompetent zu sein – das ist das Prinzip
der Prominentenwerbung.
"Meine These impliziert nicht, dass
große Geiger nicht bösartig und große
Schachspieler nicht niederträchtig sein könnten"
(259).
Bezüglich der inhärenten Güter
des Schachspiels ist die technische Fertigkeit überhaupt
nicht relevant. Ob 1200 oder 2500 ELO ist a priori bedeutungslos.
Der schwache Spieler kann uns mehr über das Schach
zu sagen haben als der stärkste, er kann moralisch
integerer sein, er kann die inhärenten Güter
des Schachs viel besser verwirklicht haben, als jener,
muss es freilich nicht. Allerdings muss er dazu erst
die Superiorität des anderen anerkannt haben.
"Stellen wir uns einen ungewöhnlich
guten Schachspieler vor, dem es nur auf das Gewinnen
ankommt, und das in ausgeprägter Form. Seine
Fähigkeiten machen ihn den Großmeistern
ebenbürtig. Er ist also ein großer Schachspieler.
Aber da das, worum es ihm geht, nur das Gewinnen ist
– und vielleicht die zufällig mit dem Gewinnen
verbundenen Güter wie Ruhm, Ansehen und Geld
-, ist das Gut, auf das es ihm ankommt, in keiner
Weise spezifisch für das Schachspiel oder Spiele
ähnlicher Art, wie es ein Gut sein muss, das
in dem Sinn, in dem ich den Ausdruck gebraucht habe,
der Praxis des Schachspiels inhärent ist. Denn
er hätte genau das gleiche Gut, nämlich
das Gewinnen und dessen zufällige Belohnungen,
auf jedem anderen Gebiet erreichen können, auf
dem es Wettkämpfe und Sieger gibt, wäre
er in der Lage gewesen, ein vergleichbares Niveau
an Fähigkeiten auf diesen Gebieten zu entwickeln.
Daher ist das, worum es ihm geht, und was er als
sein Gut erreicht, nicht die Art von Vortrefflichkeit,
die dem Schachspiel eigen ist, und nicht die Art von
Freude, die sich zusätzlich zu einer solchen
Vortrefflichkeit einstellt, ein Gut, das auch weit
schlechtere Spieler auf ihrem Niveau erreichen können"
(364).
Wichtiger als die technische Fähigkeit
ist die Tugend, sie vor allem ist Voraussetzung für
das Erreichen der inhärenten Güter:
"
dass ohne Tugenden im
Kontext der Praxis nur das erkannt werden kann, was
ich als äußerliche Güter bezeichnet
habe, auf keinen Fall aber der Praxis inhärente
Güter" (262).
Desweiteren besteht die Gefahr, die Praxis
mit den Institutionen zu verwechseln – "Schach,
Physik und Medizin sind Beispiele für Praxis; Schachklubs,
Laboratorien, Universitäten und Krankenhäuser
sind Institutionen. Institutionen befassen sich bezeichnenderweise-
und notwendigerweise mit dem, was ich als äußerliche
Güter bezeichnet habe. Sie beschäftigen sich
damit, Geld und andere materielle Güter zu erwerben;
sie sind nach Macht- und Statuskategorien gegliedert
und verteilen Geld, Macht und Status als Belohnung"
(260). -, wenngleich Institutionen wichtig sind, um
eine Praxis am Leben zu erhalten. Andererseits neigen
Institutionen aufgrund der Äußerlichkeit
zur Korruption der Praxis und es bedarf erneut der Tugenden
(Ehrlichkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit) der Macht der
Institutionen zu widerstehen.
Abschließend wollen wir uns in
aller Kürze noch einmal der Frage widmen, welches
die inhärenten Güter des Schachs sind und
wie sie innerhalb eines Tugendkataloges zu bewerten
sind. Zur Erinnerung, MacIntyre verstand unter inhärenten
Gütern, die "Vortrefflichkeit", die der
spezifischen Form von Praxis angemessen und durch sie
definiert sind und er führt bezüglich der
schachspezifischen Güter das "Erreichen einer
gewissen hochspezialisierten Art von analytischem Geschick,
strategischer Vorstellungskraft und Kampfstärke"
an. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen und
die Schachapologeten haben sich stets als sehr erfinderisch
erwiesen [6] in der Zuordnung
von positiven Eigenschaften, die dem Spieler aus der
Beschäftigung mit dem Schach erwachsen sollten.
Sinn und Unsinn solcher Schlussfolgerungen zu besprechen,
kann hier nicht der Ort sein [7],
stattdessen soll das Augenmerk auf jene wichtige Einschränkung
gerichtet werden, die MacIntyre sehr zu recht macht:
die "gewisse hochspezialisierte Art".
Ganz gleich welche Tugenden und Fähigkeiten man
mit dem Schach (oder jeder anderen Praxis) attribuiert,
es handelt sich stets um eine hochspezialisierte Art
und beim Schach insbesondere, denn die allgemeine Lebensrelevanz
des Schachs ist doch äußerst beschränkt,
verglichen etwa mit der Musik, den Künsten, der
Philosophie etc. Diese Begrenzung ergibt sich z.T. schon
zwangsläufig aus der Exklusivität jeder Praxis,
umso mehr, wenn es sich um eine hochspezialisierte Praxis
handelt. Die Güter, die der Praxis des Schachspiels
inhärent sind, "können nur durch das
Spielen dieses oder eines anderen Spiels dieser Art
erreicht werden. Wir bezeichnen sie aus zwei Gründen
als inhärent: erstens können wir sie nur in
Kategorien des Schachs oder eines anderen Spiels dieser
speziellen Art und mit Hilfe von Beispielen aus solchen
Spielen spezifizieren
, zweitens können sie
nur durch die Erfahrung der Teilnahme an der betreffenden
Praxis bestimmt und erkannt werden. Wer nicht über
die entsprechende Erfahrung verfügt, ist daher
nicht fähig, über inhärente Güter
zu urteilen" (253). Damit werden die zu erreichenden
inhärenten Güter des Schachs nicht nur in
ihrer Bedeutung relativiert, indem sie auf einen Mikrobereich
des menschlichen Handelns bezogen werden, sondern sie
werden auf der anderen Seite auch aufgewertet, denn
aus ihrer Erlangung ergibt sich der allgemeine Nutzen
für die "gesamte Gemeinschaft, die an der
Praxis teilhat" (255). Und dies beschränkt
sich nicht nur auf die hervorragendsten Exemplare der
Gemeinschaft und deren bereichernde Leistungen und Erkenntnisse,
von denen die Gemeinschaft profitiert, sondern auch
auf die einfachen Mitglieder, die mit der Verwirklichung
der inhärenten Güter einen wesentlichen atmosphärischen
Beitrag leisten!
Alasdair MacIntyre
(Bildquelle: http://www.sas.ac.uk/philosophy/PLLP.htm)
Alasdair MacIntyre: Der Verlust
der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/M.
1997. (1981) 381 Seiten
--- Jörg Seidel, 01.10.2003 ---
[1]
"
weil sich in der Praxis
die allgemeine
implizite Erkenntnis durchsetzt, dass Ansprüche
auf Objektivität und Sachlichkeit nicht erfüllt
werden können" (35).
"
es ist wichtig festzuhalten, wie oft in
ganz unterschiedlichen, modernen philosophischen Zusammenhängen
etwas auftaucht, das der versuchten emotiven Verkürzung
der Moral auf persönliche Vorlieben sehr ähnlich
ist – auch in den Werken derjenigen, die sich gar
nicht für Emotivisten hielten" (37).
[2] "Moralische Urteile
verlieren dann ihren eindeutigen Status, und die Sätze,
die sie ausdrücken, verlieren parallel dazu ihre
umstrittene Bedeutung. Solche Sätze stehen dann
als Ausdrucksformen einem emotivistischen Selbst zur
Verfügung, das seinen sprachlichen und praktischen
Standpunkt in der Welt verloren hat, da ihm die Anleitung
durch den Kontext fehlt, in welchem sie ursprünglich
zu Hause waren" (87).
"Die Aufklärung ist folglich die eine Epoche
par excellence, in der es den meisten Intellektuellen
an Selbsterkenntnis fehlt
bei dem die Blinden
ihr eigenes Sehvermögen bejubeln" (114).
[3] Vgl. etwa: Vittorio
Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen
Ethik für das 21. Jahrhundert. München 1997.
S. 362
[4] An dieser Stelle verrät
sich am deutlichsten MacIntyres philosophisches Selbstverständnis
als Kommunitarist. http://www.gallileus.info/gallileus/disciplines/WirtschSozialWi/Soziologie/campaigns/Campus_2/
104279734483/order
[5] Offensichtlich geht
MacIntyre davon aus, dass Handlungen von Individuen,
die sich einem klassischen Tugendkatalog verschrieben
haben und sofern sie konsequent handeln, in jeder Entscheidungssituation
voraussagbar wären. Wer Sokrates verstanden hat,
kann sich über dessen Entscheidung, den Schierlingsbecher
zu leeren nicht ernsthaft wundern. Interessanterweise
haben aber gerade dies Sokrates' hervorragendste Schüler
getan und ihn zur Flucht zu überreden versucht.
Auch diese Idee steht also vorerst unter dem Verdacht,
eine Fiktion zu sein. Selbst Personen, deren Leben adäquat
zu deren ausgearbeiteten und wohlbegründeten Moralauffassung
zu verlaufen schien und scheint - man denke an Sokrates,
Diogenes, Seneca, den jungen Luther
(derartige
Denker, natürlich unheroisch, gibt es auch heute
noch: Drewermann, Hösle
mögen dem entsprechen)
- könnte man entgegenhalten, dass sie einfach noch
nicht derjenigen (Extrem-)Situation gegenüberstanden,
die sie zu Verletzungen führen würde.
[6]
aber nur wenige
haben die Tiefendimension begriffen; Artur Jussupow
gehört zu diesen, wenn er aufzählt "die
Intuition, der sportliche Kampfgeist, das logische Denken,
die Konzentrationsfähigkeit, das Denken, Disziplin,
die Fähigkeit Entscheidungen zu treffen, das Erlernen
auch mit der Niederlage zu leben, mit Informationen
zu arbeiten", aber alles unter die entscheidende
Prämisse stellt: "Schach braucht auch viel
Liebe". (Rochade Europa 7/03, 23).
[7] Einiges wurde bereits
angedeutete in: Kinderschachpsychologie
Dieser Text ist geistiges Eigentum von
Jörg Seidel und darf ohne seine schriftliche Zustimmung
in keiner Form vervielfältigt oder weiter verwendet
werden. Der Autor behält sich alle Rechte vor.
Bitte beachten Sie dazu auch unseren Haftungsausschluss.
|
|