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Hohepriester des Irrelevanten.
Der Philosoph George Steiner über das Schach
"The chess master is a high priest
of the irrelevant.
"
Georg Steiner
"Schöpfung
ist die Kunst des Bestmöglichen."
Odo Marquard
Dem
legendären 72er Weltmeisterschaftskampf hat
die Schachwelt ein schmales Büchlein zu danken,
das ziemlich einzig dasteht im Schachblätterwald,
denn es ist von einem Denker ersten Ranges verfasst
worden, von George Steiner. Die interessierte Schachgemeinde
verlangt nach Popularität, nach gesellschaftlicher
Anerkennung, sie jubelt, wenn das geliebte Spiel in
Nachrichten, Medien, Film und Werbespots eine Rolle
spielt, sie hätte um so mehr Grund dazu, wenn das
Schach Eingang in den philosophischen Diskurs auf höchster
Ebene fände. Popularität ist – auch gegen
den Wortsinn – die Anerkennung durch die Wenigen,
durch die Besten. George Steiner gehört zu diesen;
sein Werk thematisiert das Spiel mehrfach, nicht nur
in diesem "Schachbuch".
Er scheint einer anderen Zeit entsprungen
zu sein, er gehört zu einem Typus, den man heutzutage
nur noch aus Memoranden kennt, zum Typus des Universalgelehrten,
der sich nicht nur durch eine oft beängstigend
umfassende klassische Bildung auszeichnet, sondern auch
durch ein universelles Interesse. Steiners Arbeiten
beschäftigen sich ebenso sachkundig mit dem antiken
Drama, der russischen Literatur wie mit Heidegger und
sprachphilosophischen Fragestellungen, sie umfassen
literarische Arbeiten wie Gedanken zu Musik, Malerei
und eben Schach. Scheinbar mühelos bewegt sich
der Ausnahmephilosoph [1] – schon dreisprachig aufgewachsen
– in vielen Sprachen und Welten. Sprache ist für
ihn Welt: Der Polylinguist ist daher immer schon der
freiere Mensch. Seine kolossale Belesenheit erschwert
allerdings mitunter die Lektüre, insbesondere in
seinen späten Werken, wo er exzessiv mit Namen,
Konzepten, Theorien, Titeln, Romanfiguren jongliert,
Unmengen an Wissen voraussetzt, als schriebe er für
das gehobene Bildungsbürgertum des letzten Jahrhunderts.
"So viel erinnerte Bildung für so wenige,
die sie noch zu teilen vermögen" [2].
"The Sporting Scene"
erschien noch 1972 und geht von Augenzeugenberichten
des Autors aus, der als Vertreter von "The New
Yorker" das Geschehen in Reykjavik beobachtete.
Seiner Natur gemäß schließt dies viele
Umwege ein: geografische wie mentalitätsbezogene
Besonderheiten, die alten nordischen Sagen, die Geschichte
des Schachs. Ganz folgerichtig und nebenbei ist für
den kosmopolitischen Feingeist der vielseitige, weltmännische,
kultivierte Lasker "der attraktivste aller unsterblichen
Schachriesen" (12).
Viel mehr als die vor Ort gespielten
Partien, auf die Steiner erst am Ende seines Buches
zu sprechen kommt, interessieren den Denker die in-
und externen Zusammenhänge. So widmet er der großpolitischen
Wetterlage seine Aufmerksamkeit oder der Psychologie
der Protagonisten und hier natürlich besonders
der Fischers.
Spassky wird charakterisiert als eine
"Persönlichkeit mit großem
Charme und untadeliger Höflichkeit", ein
Gentleman, der freilich auch zu melancholischen Anfällen
und introspektiver Passivität neigt und damit
das typisch russische Oblomowtum repräsentiert.
"He is an individual of
great charm and impeccable courtesy
Spassky
is prone to bouts of melancholy, of introspective
passivity (the Oblomovism of Russian literature and
life)" (24). [3]
Fischer hingegen muss einem Manne wie
Steiner innerlich fremd bleiben und wäre er nicht
zum medialen und gesellschaftlichen Ereignis geworden,
hätte er nicht die "sozialen, professionellen
Aspekte des wohl 1500 Jahre alten Spiels verändert",
er wäre für Steiner uninteressant und nicht
mehr als ein
neunundzwanzigjähriger Einzelgänger
mit schlechten Manieren und Gleichgültigkeit
gegenüber gewöhnlichen sozialen Verhaltensregeln
und den persönlichen Gefühlen anderer.
"
twenty-nine-year-old
loner whose bad manners and indifference to customary
social behaviour and to the personal feelings of the
others
(25).
Dieser aufreizende Widerspruch zwischen
Spitzenleistung auf einem "schrecklich engen zerebralen
Gebiet" und Moralität ist es nicht zuletzt,
der das Schachgenie für den Philosophen bedenkenswert
macht. Schließlich wird klar, wie wenig der sowjetische
Weltmeister an der Magie der Formel "Spassky –
Fischer" tatsächlich teilhat.
Fast muss man über Steiners naive
Antiquiertheit schmunzeln, wenn ihn das wiederholte
Zuspätkommen Fischers zu den Partien stört,
"obwohl dieser jünger als der Weltmeister"
(40) war. Hätte Stefan Zweig seinen negativen Helden
statt Czentovic zufälligerweise Fischer genannt,
niemand würde zögern, im amerikanischen Schachgenie
die Reinkarnation des Schachtölpels aus der südslawischen
Provinz zu sehen, zumindest nicht in Steiners Lesart.
Allerdings vergisst er nicht, auch Fischers Verdienste
zu würdigen. Und schließlich: Verwirklichte
das egozentrische Schachgenie nicht nur die intrinsischen
Möglichkeiten, das innere Programm des Spiels bis
in seine Extreme? Gibt es nicht
vielfältige Impulse zur Paranoia
und Wirklichkeitsentfremdung im Schach höchstselbst,
in der Gewalt und autistischen Leidenschaft des Spiels?
"Whatever
Fischers idiosyncrasies, there are abundant
impulses to paranoia and unreality in chess itself,
in the violence and autistic passion of the game
(44)?
Fasziniert beschreibt der namhafte Philosoph,
der in Cambridge und Oxford ebenso zu Hause ist wie
in Paris, Basel, Harvard oder Yale, den unvergleichlichen
Spannungsanstieg einer jeden geglückten Schachpartie,
und bei der Lektüre seines Essays wird deutlich,
wie sehr das Buch als Analogon dazu angelegt ist. Im
Mittelteil/spiel schließlich vergisst der Autor
sich selbst und verfasst denkwürdige Zeilen, stets
mit dem Problem ringend, dass, vergleichbar der Mathematik
oder Musik, das tiefe Entrücken und die ästhetische
Befriedigung kaum in Worte zu fassen und erst recht
nicht einem Unkundigen mitzuteilen seien. Auch der gealterte
Gelehrte kann sich hier sein kindliches Staunen noch
bewahren: "von dem schwindelerregenden Wissen,
dass es beim Schachspiel nach den ersten fünf Zügen
mehr Möglichkeiten gibt, als das Universum Atome
enthält" [4], blieb er schon als Kind erschüttert
und dieses kindliche Staunen bleibt ihm ein Leben lang.
Aber diese vulgären Unermesslichkeiten
lassen die Malströmartigen Tiefen des Spiels
kaum erahnen. Schon vor Beginn des Spiels treten sich
die Figuren, mit ihrer feinen Anspielung auf menschenähnliche
Boshaftigkeit, in elektrisierter Stille gegenüber.
Mit dem ersten Zug scheint diese Stille wie gedehnte
Seide zu zerreißen
Jeder Zug verfügt
das betäubende Axiom moderner Kosmologie, dass
es im ganzen Universum keine Bewegung gibt, die nicht
jede andere Bewegung beeinflusst oder von jeder anderen
beeinflusst wird...
"But
these vulgar immensities give little inkling of the
maelstrom deeps of the game. Even before start of
play, the pieces with their subtle insinuation of
near-human malevolence, confront each other across
an electric silence. At the fist move, that silence
seems to shred like stretched silk
Each move
enacts the numbing postulate of modern cosmology that
there is not a motion in the universe which does not
affect and is not affected by every other motion
(45f.).
Ekstatisch der Schluss:
Die Dichter lügen über den
Orgasmus. Er ist ein kleines, riskantes Geschäft
,
verglichen mit dem Crescendo des Sieges im Schach.
"The
poets lie about orgasm. It is a small, chancy business
,
compared to the crescendo of triumph in chess
(S. 47).
Schließlich zieht Steiner die große
Summe, indem er unausgesprochen die Hauptfrage all seines
Denkens stellt: "Was ist der Status von Bedeutung,
was bedeutet Bedeuten" [5]. Anders gesagt: Kann einerseits
Schach als Sprache fungieren und ist es in Sprache übersetzbar,
andererseits, welchen moralischen und ontologischen
Wert darf es beanspruchen? Hier darf man übertragen,
was er an anderer Stelle über die Musik sagte:
Es ist im höchsten Grade bedeutsam; es ist ebenfalls,
streng genommen, sinnlos. [6]
Auch wenn die Mehrheit sich stets für
Bingo statt Schach entscheiden wird, für die Seifenoper
statt für Aischylos, für den kultivierten
und in diesem Sinne konservativen, am Klassiker orientierten
Kulturmenschen wird alles, "was schwierig, weil
vorzüglich ist, die Rechtfertigung für das
Leben darstellen" [7] und so auch das Schach. Daran
ändert auch der erstaunlich niedrige Betrag der
Gesamtsumme nichts, denn wer über mehrere kulturelle
Bereiche souverän verfügt, für den muss
sich die Bedeutung des Spiels zwangsläufig relativieren:
Schach mag sehr wohl der tiefste und
am wenigsten ergründbare Zeitvertreib sein, aber
es ist auch nicht mehr.
"Chess
may well bet he deepest, least exhaustible of pastimes,
but it is nothing more (S. 57).
Bedauerlicherweise nahm Steiner die Feststellung
wörtlich und verzichtete bislang darauf, seine
Gedanken zum Schach in einem eigenen Werk zusammenzufassen.
Es kann offensichtlich nicht die Aufmerksamkeit einfordern,
die Literatur, Malerei, Musik beanspruchen, wenngleich
es immer wieder im Werk präsent ist. Dort dient
es als Analogon und Ideenreservoir. So etwa in "After
Babel" von 1974, wo er im Zusammenhang der großen
Frage, ob Sprache entropischen Gesetzmäßigkeiten
unterliegt, schreibt:
Obwohl der große Meister Tartakower
anders dachte, so schreiben wir doch Schachfiguren
keine Gefühle oder einige Mysterien autonomer
Wesen zu.
"Though
the great master Tartakower thought otherwise, we
do not ascribe feelings or some mystery of autonomous
being to chess pieces." [8]
(Dass er hier irrt, haben Liccione/Festini
zumindest halbüberzeugend nachgewiesen.). Verzichtet
er auch in diesem Buch darauf, seine Kardinalfrage nach
der Übersetzbarkeit von Sprachen auf das Schach
zu übertragen – was, wenn es bedeuten sollte,
denkbar wäre -, so wird doch deutlich, wie sehr
es zum permanenten Gedankenhaushalt des klassisch Gebildeteten
gehört.
Erst in seinem im Jahre 2001 erschienenen
Spät- und Hauptwerk "Grammars of Creation"
[9] wird dem Schach, wenn auch als Mittel zum Zweck, die
entsprechende Aufmerksamkeit gezollt. Dabei ist die
Relevanz offensichtlich, wo die Spanne zwischen den
"semantischen Feldern von Erfindung
und Schöpfung (invention und creation)"
ausgelotet wird. Man kann Steiners Andeutungen weiterdenken
und auf das Schach anwenden, natürlich nur unter
Irrtumsrisiko.
Die Frage ist in unserem Kontext brisant:
Ist der Schachspieler ein Erfinder oder ein Schöpfer?
An der Beantwortung der Frage entscheidet sich u.a.,
ob Schach Kunst oder Wissenschaft oder gar nur Handwerk
ist, ob es im höheren Sinne bleibt oder geht, ob
es in der Lage ist eine "Offenbarung inkommensurabler
Einzigartigkeit" zu schaffen, ob es Sprache sein
kann, als Ausdrucksmöglichkeit taugt, schließlich
ob es überhaupt bedeutet oder bedeutungslos ist.
Die Rede vom "inneren Programm" des Schachs
ließ Steiners wahrscheinliches Urteil bereits
vage durchblicken.
Schöpfung meint hier nur in zweiter
Linie den theologischen Akt, rekurriert vielmehr auf
die künstlerische Schöpfung. Und die sieht
der Philosoph im klassischen Kunstwerk verwirklicht,
muss folglich modernen Kunstwerken, die auf einen transzendenten
Sinnzusammenhang verzichten, den Kunstcharakter weitestgehend
absprechen. Schöpfung und Erfindung meinen im früheren
Vokabular das Primäre und das Sekundäre [10]:
Letzteres - die Nachahmung, die Interpretation etc.
- droht zusehends das Primäre zu verdrängen.
Hat dieser bedauernswerte Verlust auch eine lange Geschichte
– Steiner zeichnet sie in groben, oft allzu groben
Zügen nach - vom antiken Epos und Drama über
Dante, Shakespeare, Goethe und Hölderlin bis hin
zu Kafka, Heidegger und Celan (um nur die wichtigsten
Markierungen zu nennen) -, so lässt sich der eigentliche
point of no return namentlich machen: Marcel Duchamp.
Der Umschlag vollzieht sich mit dessen Aussage: "Die
Malerei ist beendet. Wer kann Besseres schaffen als
diesen Propeller?" Von hier ab, so Steiner, gilt:
Erfindung ist als die primäre
Art der Schöpfung in der modernen Welt identifiziert.
"Invention
is identified as the primary code of creation in the
modern world(274).
Duchamps Hinwendung zum Schach hat daher
tiefere Bedeutung:
Es folgt, dass Kunst zum dilettantischen
Luxus verkommt, dass ein Marcel Duchamp besser beim
Schach aufgehoben ist. Auch hier, wenn das Wortspiel
erlaubt sei, ist der Zug perfekt kalkuliert und bedeutsam.
Wie die Kunst, Poesie oder Musik ist das Schach transzendental
trivial
Der Schachmeister (Duchamp spielte
1930 hinter Aljechin am zweiten Brett für Frankreich)
ist ein Hohepriester des Irrelevanten.
"It
follows that art is becoming amateurish indulgence,
that a Marcel Duchamp is better employed at chess.
Here also, if the pun is allowed, the move is perfectly
calculated and significant. Like art, po-etry or music,
chess is transcendentally trivial.
The chess
master (Duchamp played second board for France just
behind Alekhine in 1930) is a high priest of the irrelevant
(S. 274).
Es ist der Verweigerungsakt des genialen
Künstlers weiterhin künstlerisch schöpferisch
zu sein, den der klassisch orientierte Denker nicht
akzeptieren will. Dass für Duchamp das Schach –
in dem er, trotz guter Ergebnisse – eben nicht
zu Hause ist, dessen eigentliche Sprache er nicht spricht,
zum Kunstsurrogat wird, torpediert nicht nur den Steinerschen
Kunstbegriff, sondern diskreditiert auch das Schach
als erfinderisch; der Ritterschlag des Schöpferischen
muss ihm verwehrt bleiben. Es ist eben nur "wie
die Kunst".
(Aus anderem Blickwinkel, von Duchamp
ausgehend, kann das freilich ganz anders wahrgenommen
werden, da der Akt der Wahl Kunst konstituiert. Anlässlich
seines berühmten Pissoirs – "Fontain"
-, das er pseudonym als "Mr. Mutt" schuf,
schrieb Duchamp: "Ob Mr. Mutt die Fontaine mit
seinen eigenen Händen gemacht hat oder nicht, hat
keinerlei Bedeutung. Er hat sie AUSGEWÄHLT. Er
nahm einen gewöhnlichen Gegenstand des alltäglichen
Lebens, platzierte ihn so, dass seine nützliche
Signifikanz unter dem neuen Titel und Blickwinkel verschwand
– schuf einen neuen Gedanken für das Objekt"
[11]. Dies gilt in gewisser Weise auch für das von
Duchamp gewählte Schachspiel, auch wenn er es nie
als Kunstwerk deklarierte; die dominante Rolle des Schachs
in seinem Gesamtwerk unterstreicht allerdings die symbolische
Bedeutung. So erhält es letztlich doch seinen Kunstcharakter,
wenn auch nicht als "Kunst an sich", als "intrinsische
Ästhetik", als "schöne Partie"
oder dergleichen aber im künstlerischen Wahlakt
kann es zur Kunst erhoben werden. Es ist mühselig
zu betonen, dass die Qualität der Partie dabei
nicht primär sein kann. Steiner scheint diese "Öffnung"
durch die moderne Kunst nicht sehen zu wollen.)
Ob die Zuschreibung den Tatsachen entspricht,
lässt sich, entgegen der alltäglichen Erwartung,
nicht aus dem scheinbar berufenen Munde des Schachmeisters
erfahren, ebenso wie man über den Status des Mathematikers
von diesem selbst nichts Brauchbares erwarten darf.
"Das Problem ist, dass diese maßgeblichen
Referenzen nicht zwischen Schöpfung und Erfindung
unterscheiden. Im täglichen Sprachgebrauch hört
man Mathematiker das Schöpfertum über die
Erfindungsgabe einordnen. Aber, soweit ich einschätzen
kann, ist diese Unterscheidung eher impressionistisch
(eindrucksabhängig) als definitorisch. Was diesem
Ad-hoc-Gebrauch unterliegt ist exakt die erkenntnistheoretische
Unsicherheit
"
"The
trouble is that these authoritative testimonials do
not distinguish between creation and inven-tion. In
every day parlance, one does hear mathematicians place
creativity above inventiveness. But, so far as I am
aware, the distinction is impressionistic rather than
definitional. What underlies this ad hoc usage
is, precisely, the epistemological uncertainty
(S. 148).
Trotzdem bildet das mathematische Terrain,
an dessen Horizont auch das schachliche ruht, den idealen
Boden, Grundsatzfragen zu klären. Denn gerade in
der Mathematik, auf dem Gebiet der vermeintlich festen
Gesetzmäßigkeiten, lässt sich der Sinn
der Dichotomie invention/creation bestens sichtbar machen.
Hier schwebt das Urteil nämlich nicht im freien
Raum, Geschmack und Zeit spielen keine Rolle: zwei plus
zwei ist vier. Ist das nun er- oder gefunden? Schafft
die Mathematik ihre intrinsischen Gesetze/Relationen
oder sind sie irgendwie da, kosmo- oder theologisch
gegründet, und müssen nur erkannt werden?
Steiner gesteht hier seine partielle Inkompetenz ein;
Vorteil und Bürde des Philosophen sind es, auch
gegen die Kompetenzen denken zu können, er darf
sich Äußerungen über Dinge erlauben,
von denen er nichts versteht, in erster Linie weil er
nicht in sie verstrickt ist. Und wenn man schon
der Mathematik gegenüber ohnmächtig ist, so
können schachliche Analogien – sofern man
sich des Unterschieds bewusst bleibt – helfen:
Nichts finde ich frustrierender, demütigender
als meine Unfähigkeit, als mathematischer Analphabet,
das lichtvolle Königreich der wahren Schönheit
zu begreifen. Ich bin lediglich dazu in der Lage vage
zu simulieren, indem ich versuche die Gegenwart der
Schönheit im Stile gewisser Schachmeister, in
der Anordnung und Lösung gewisser Endspiele und
Schachprobleme zu erfahren, versuche zu analysieren.
Aber auch hier ist die "Schönheit der Wahrheit",
auf eine komplizierte Art und Weise, trivial. Die
der Mathematik ist es nicht. Schon wieder tritt Musik
in diese Dialektik ein. Wie kann man deren Nichttrivialität
definieren, deren äußerste Ernsthaftigkeit,
mit den Gemeinsamkeiten in kodierten formalen Strukturen
und wahrscheinlich in psychischen Ursprüngen,
die mit beiden, Mathematik und Schach, bestehen? Oder
wie kann man in dieser Konstellation die beunruhigende
Tatsache erklären, dass bestimmte Kombinationen
im Schach offensichtlich schön sind und trotzdem
als fehlerhaft nachgewiesen werden können? Es
gibt keine Schönheit im mathematischen Fehler.
G.H. Hardys "Apologie eines Mathematikers
trifft denselben ästhetischen Ton wie Poincaré.
Ein Mathematiker, nicht anders als ein Maler
oder Dichter, ist ein Macher von Mustern (patterns).
Hardy versteht diese Muster als dauerhafter denn jede
andere in Literatur oder Kunst, weil sie mit
Ideen gemacht wurden, deren Wahrheit, deren
Konsistenz auf ewig bestehen können. Die Schachanalogie
aufnehmend, findet Hardy, dass die Schönheit
mathematischer Muster die eines jeden Schachspiels
oder -problems überschreitet.
"I
find nothing more frustrating, more humbling, than
my incapacity, as a mathematical illiterate, to grasp
this lucent realm of truth beauty. I am
only able to simulate indistinctly by trying to experi-ence,
by trying to analyse the presence of beauty in the
style of certain chess masters, in the configu-ration
and solution of certain endgames and chess problems.
But here the beauty of the truth is, in some complicated
way, also trivial. That of mathematics is not. Yet
again, music enters the dialectic. How is one to define
its non-triviality, its uttermost seriousness, with
its affinities, in encoded, for-mal structures, and
possibly in psychic origins, with those of both mathematics
and chess? Or how is one to account, in this constellation,
for the unsettling fact that certain combinations
in chess display obvious beauty yet can be shown unsound?
There is no beauty to mathematical error.
G.H. Hardys A Mathematicians Apology
strikes the same aesthetic chord as does Poincaré.
A mathematician, like a painter or a poet, is
a maker of patterns. Hardy takes these patterns
to be more permanent than any in literature or art
because they are made with ideas whose
verity, whose con-sistency can be established forever.
Taking up the analogy with chess, Hardy finds that
the beauty of mathematical patterns
surpasses
that of any chess game or problem. (147f.).
Die Frage bleibt unbefriedigend beantwortet,
kein Wunder, dass Steiner sich ins Paradox flüchtet:
Reine Mathematik schafft, was sie entdeckt und entdeckt zugleich, was sie schafft.
"Pure
mathematics creates what it discovers, yet also discovers
what it creates"(154).
Nur Mathematiker können die jeweiligen
Ansprüche auf Schöpfung, auf Erfindung und
auf Entdeckung im mathematischen Prozess beurteilen.
"Only
mathematicians can asses the respective claims to
creation, to invention and to discovery in the mathematical
process"(171).
Schließlich widmete sich Steiner
ein drittes Mal dem Schach. Diesmal nimmt er das Großereignis
Deep Blue versus Kasparow zum Anlass, um seine sorgenvollen
Gedanken über die Entwicklung der Computertechnik
durch beispielhafte Schockerlebnisse Beweiskraft zu
verleihen, denn für den wertkonservativen Denker
sind sie, die Computer,
weit mehr als titanische Rechenschieber
und Zahlenmampfer. Sie versuchen, die zerebralen Prozesse
zu simulieren, jene Prozesse nachzuahmen, die sie
in die Existenz gebracht haben.
"...
far more than the titanic slide-rules and number-crunchers.
They aim to simulate, to mime the cerebral processes
which have brought them into existence" (245).
Wenn diese Prämisse stimmt, dann
wäre Steiners Schlussfolgerung tatsächlich
zwingend:
Der Schachsieg von IBM's Deep Blue
über Kasparow wirft Fragen auf, die weit jenseits
des anläßlichen Schocks anzusiedeln sind.
"The
victory at chess of IBMs Deep Blue over Kasparov
raises questions well beyond the shock of the occasion".
Aber es ist die Prämisse, die des
Beweises bedarf, und der muss auf einer Metaebene erbracht
werden; Beispiele dieser Art beweisen nichts, nichts
zumindest was über Indizien hinausginge. Den Faden,
den Steiner nun weiterspinnt, könnte man aus guten
Gründen an der Prämisse schon abschneiden
(an anderer Stelle habe ich versucht aufzuzeigen, weshalb
der Computer aus spielinternen Gründen nicht gegen
den Menschen wird gewinnen können http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Philo/computer.php).
In einem der formal profundesten, bezauberndsten
und unerschöpflichen menschlichen Betätigungen,
kann von nun an keine lebende Person mehr als überlegen
betrachtet werden. In der "letzten Analyse"
– ein verräterischer Ausdruck – wird
sich die Maschine als stärker (und immer noch
stärker) erweisen. Ich finde das zugleich faszinierend
und tieftraurig.
"In
one of the formally profoundest, most entrancing and
inexhaustible of human pursuits, no living person
can, henceforth, be regarded as supreme. In the
last analysis, a betraying phrase, the ma-chine
will prove stronger (and stronger). I find this at
once mesmerizing and deeply sad (246).
Selbst wenn dies aufs Schach bezogen
nicht korrekt sein sollte (
und wir alle wissen,
wie enorm fehlerhaft Computer noch immer spielen, von
den "seltsamen Umständen" des Deep-Blue-Matches
mal ganz zu schweigen. Der Grundfehler Steiners liegt
allerdings in der Annahme der Unerschöpflichkeit
des Spiels), so ist die technische Überlegenheit
des Computers auf vielen zerebralen Gebieten schon jetzt
fraglos. Trotzdem steht der Mensch damit nicht vor einer
neuen Situation. Steiner übersieht hier die in
der philosophischen Anthropologie seit Arnold Gehlen
gängige Definition des Menschen als Mängelwesen
und noch nicht festgestelltes Tier. Man müsste
sonst, vereinfacht gesagt, darüber traurig sein,
dass der Gepard schneller rennt und der Fisch tiefer
taucht und der Adler schärfer sieht und der Hund
besser
In allen physischen Belangen ist der Mensch
zu schlagen, ist er verwundbar und das seit je. Es ist
diese Kombination aus Schwächen, die "ganze
Breite der elementaren Innerlichkeit; die Gedanken und
die Sprache, die Phantasie, die sonderbaren bebilderten
Antriebe, die kein Tier hat, die einzigartige Motorik
und Beweglichkeit
die sich dann alle gegenseitig
erläutern und aufeinander hinweisen" [12]
und die schließlich zu Schaffung der lebenswichtigen
Institutionen führen, welche wiederum die deutlichste
Differenz zum Tier darstellen und die temporäre
Überlegenheit des Menschen begründen. Der
Computer ist nichts anderes als eine solche Institution
im weitesten Sinne, bzw. ein Teil dieser. So gesehen
muss Steiners orakelhafte Frage, bei aller sachlichen
Berechtigung, nicht beunruhigen:
Aber die herausforderndste Ungewissheit
liegt an der Grenze zwischen dem Psychologischen und
dem Philosophischen. Eine Anzahl von Spielern, die
gegen Computer gespielt haben, die in deren Programmierung
involviert waren, hat sich gefragt, ab welchem Moment
Geschwindigkeit und Berechnungsverzweigung in "etwas
anderes" übergehen. Die skeptische Antwort
würde lauten, dass unsere konventionelle Unterscheidung
zwischen Berechnen/Bewerten und Denken geändert
werden muss. In einem regelstrengen Zusammenhang wie
dem Schach, ist Berechnen/Bewerten Denken. Aber ist
diese Reduktion völlig überzeugend? Gibt
es Raumkonzeptualisierungen und Weitblick, erzeugt
vom Computer, die doch dem Denken näher zu sein
scheinen als dem Berechnen/Kalkulation, einem wie
auch immer schwierigen automatischen Prozess? Ist
da mehr als anthropomorphe Verzweiflung in Kasparows
überlieferter Bemerkung, hinsichtlich einer phänomenalen
Zugfolge in der fünften Partie des Matches, dass
Deep Blue "denke"?
"But
the most challenging uncertainty lies at the borders
between the psychological and the philosophic. A number
of players who have encountered computers, who have
been involved in their programming, have wondered
at what point speed and ramification of calculations
shade into something else. The sceptical
answer would be that our conventional differentiation
between calculation and thought needs to be revised.
In a rule-bound context such as chess, calculation
is thought. But is that reduction altogether convincing?
Are there spatial conceptualizations and foresights
generated by the computer which seem closer to thought
than to calculation, an automatic process however
arduous? Is there more than anthropomorphic exasperation
to Kasparovs reported remark, concerning a phenomenal
sequence of moves in the fifth game of the match,
that Deep Blue was thinking? (246).
George Steiner ist – nirgendwo wird
dieses deutlicher als in seinem letzten Buch –
ein Warner aus der Vergangenheit heraus. Weniger die
Sorge um die Zukunft denn die Trauer um den Verlust
der guten alten Zeit bewegt sein Denken. Die verlorene
Fülle einzuklagen ist gutes Recht und war noch
nie so notwendig wie heute, aber sie wäre umso
gerechtfertigter, wenn sie sich aktiv gestalten würde,
wenn sie also Vergangenes aus dem Jetzigen und Zukünftigen
als lebbare Alternative zur Seite stellen würde,
wenn sie zu zeigen versuchen würde, was möglich
war und gewesen wäre, anstatt sich als Bürde
darzustellen, die man, aus welchem Grund auch immer,
mitzuschleppen habe. Man wird Dante und Milton in hundert
Jahren nur noch dann lesen, wenn es gelingt nachzuweisen,
dass sie noch immer Lösungen für jeweilige
Existenzialprobleme bieten. Die reine klassizistische
Liebe zum literarischen Kleinod wird dazu nicht ausreichen.
Steiner scheint dies zu ahnen; sein melancholischer
Grundton speist sich sowohl aus der Trauer als auch
aus diesem Wissen. Schöpfertum statt Erfindungsreichtum,
creation vor invention – sein eigenes Werk ist
überreich an gefundenen Konnotationen, aber ist
es schöpferisch?
--- Jörg Seidel, 16.10.2002 ---
[1]
Steiner selbst bestand ausdrücklich darauf, kein
professioneller Philosoph zu sein – wenn er hier
so bezeichnet wird, dann wird stillschweigend ein weiterer
Philosophiebegriff vorausgesetzt. "Ich bin kein
professioneller Philosoph
Mein eigenes Gebiet
ist das Studium der Sprache, ihres Verhältnisses
zur Literatur einerseits und zur Geschichte der Ideen
und der Gesellschaft andererseits" (George Steiner:
Martin Heidegger. Eine Einführung. München
1989. S. 59; vgl. auch 60f)
[2] Martin Meyer in: Neue
Zürcher Zeitung, 9. Oktober 2001
[3] alle Übersetzungen
J.S.; Da es sich um zum Teil diffizile Passagen handelt,
wird der jeweilige Originaltext angefügt.
[4] George Steiner: Errata.
Bilanz eines Lebens. München 1997. S. 13
[5] George Steiner: Von
realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München
1990. S. 128
[6] Errata: 102
[7] Errata: 156
[8] George Steiner: After
Babel. Aspects of language and translation. Oxford 1998.
S. 21
[9] George Steiner: Grammars
of Creation. London 2001
[10] so die Gegensatzbegriffe
in "Von realer Gegenwart"
[11] Marcel Duchamp: "Der
Fall Richard Mutt". 1917. zit. In: Calvin Tomkins:
Duchamp. München/Wien 1999. S. 219.
[12] Arnold Gehlen: Der
Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt. Wiesbaden
1986 (1940)
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