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PHILOSOPHIE
16. Oktober 2002

Hohepriester des Irrelevanten.
Der Philosoph George Steiner über das Schach

"The chess master is a high priest of the irrelevant. "
Georg Steiner

 

"Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen."
Odo Marquard

 

Dem legendären 72’er Weltmeisterschaftskampf hat die Schachwelt ein schmales Büchlein zu danken, das ziemlich einzig dasteht im Schachblätterwald, denn es ist von einem Denker ersten Ranges verfasst worden, von George Steiner. Die interessierte Schachgemeinde verlangt nach Popularität, nach gesellschaftlicher Anerkennung, sie jubelt, wenn das geliebte Spiel in Nachrichten, Medien, Film und Werbespots eine Rolle spielt, sie hätte um so mehr Grund dazu, wenn das Schach Eingang in den philosophischen Diskurs auf höchster Ebene fände. Popularität ist – auch gegen den Wortsinn – die Anerkennung durch die Wenigen, durch die Besten. George Steiner gehört zu diesen; sein Werk thematisiert das Spiel mehrfach, nicht nur in diesem "Schachbuch".

Er scheint einer anderen Zeit entsprungen zu sein, er gehört zu einem Typus, den man heutzutage nur noch aus Memoranden kennt, zum Typus des Universalgelehrten, der sich nicht nur durch eine oft beängstigend umfassende klassische Bildung auszeichnet, sondern auch durch ein universelles Interesse. Steiners Arbeiten beschäftigen sich ebenso sachkundig mit dem antiken Drama, der russischen Literatur wie mit Heidegger und sprachphilosophischen Fragestellungen, sie umfassen literarische Arbeiten wie Gedanken zu Musik, Malerei und eben Schach. Scheinbar mühelos bewegt sich der Ausnahmephilosoph [1] – schon dreisprachig aufgewachsen – in vielen Sprachen und Welten. Sprache ist für ihn Welt: Der Polylinguist ist daher immer schon der freiere Mensch. Seine kolossale Belesenheit erschwert allerdings mitunter die Lektüre, insbesondere in seinen späten Werken, wo er exzessiv mit Namen, Konzepten, Theorien, Titeln, Romanfiguren jongliert, Unmengen an Wissen voraussetzt, als schriebe er für das gehobene Bildungsbürgertum des letzten Jahrhunderts. "So viel erinnerte Bildung für so wenige, die sie noch zu teilen vermögen" [2].

"The Sporting Scene" erschien noch 1972 und geht von Augenzeugenberichten des Autors aus, der als Vertreter von "The New Yorker" das Geschehen in Reykjavik beobachtete. Seiner Natur gemäß schließt dies viele Umwege ein: geografische wie mentalitätsbezogene Besonderheiten, die alten nordischen Sagen, die Geschichte des Schachs. Ganz folgerichtig und nebenbei ist für den kosmopolitischen Feingeist der vielseitige, weltmännische, kultivierte Lasker "der attraktivste aller unsterblichen Schachriesen" (12).

Viel mehr als die vor Ort gespielten Partien, auf die Steiner erst am Ende seines Buches zu sprechen kommt, interessieren den Denker die in- und externen Zusammenhänge. So widmet er der großpolitischen Wetterlage seine Aufmerksamkeit oder der Psychologie der Protagonisten und hier natürlich besonders der Fischers.
Spassky wird charakterisiert als eine

"Persönlichkeit mit großem Charme und untadeliger Höflichkeit", ein Gentleman, der freilich auch zu melancholischen Anfällen und introspektiver Passivität neigt und damit das typisch russische Oblomowtum repräsentiert.

"He is an individual of great charm and impeccable courtesy… Spassky is prone to bouts of melancholy, of introspective passivity (the Oblomovism of Russian literature and life)" (24). [3]

Fischer hingegen muss einem Manne wie Steiner innerlich fremd bleiben und wäre er nicht zum medialen und gesellschaftlichen Ereignis geworden, hätte er nicht die "sozialen, professionellen Aspekte des wohl 1500 Jahre alten Spiels verändert", er wäre für Steiner uninteressant und nicht mehr als ein

neunundzwanzigjähriger Einzelgänger mit schlechten Manieren und Gleichgültigkeit gegenüber gewöhnlichen sozialen Verhaltensregeln und den persönlichen Gefühlen anderer.

"…twenty-nine-year-old loner whose bad manners and indifference to customary social behaviour and to the personal feelings of the others…” (25).

Dieser aufreizende Widerspruch zwischen Spitzenleistung auf einem "schrecklich engen zerebralen Gebiet" und Moralität ist es nicht zuletzt, der das Schachgenie für den Philosophen bedenkenswert macht. Schließlich wird klar, wie wenig der sowjetische Weltmeister an der Magie der Formel "Spassky – Fischer" tatsächlich teilhat.

Fast muss man über Steiners naive Antiquiertheit schmunzeln, wenn ihn das wiederholte Zuspätkommen Fischers zu den Partien stört, "obwohl dieser jünger als der Weltmeister" (40) war. Hätte Stefan Zweig seinen negativen Helden statt Czentovic zufälligerweise Fischer genannt, niemand würde zögern, im amerikanischen Schachgenie die Reinkarnation des Schachtölpels aus der südslawischen Provinz zu sehen, zumindest nicht in Steiners Lesart. Allerdings vergisst er nicht, auch Fischers Verdienste zu würdigen. Und schließlich: Verwirklichte das egozentrische Schachgenie nicht nur die intrinsischen Möglichkeiten, das innere Programm des Spiels bis in seine Extreme? Gibt es nicht

vielfältige Impulse zur Paranoia und Wirklichkeitsentfremdung im Schach höchstselbst, in der Gewalt und autistischen Leidenschaft des Spiels?

"Whatever Fischer’s idiosyncrasies, there are abundant impulses to paranoia and unreality in chess itself, in the violence and autistic passion of the game” (44)?

Fasziniert beschreibt der namhafte Philosoph, der in Cambridge und Oxford ebenso zu Hause ist wie in Paris, Basel, Harvard oder Yale, den unvergleichlichen Spannungsanstieg einer jeden geglückten Schachpartie, und bei der Lektüre seines Essays wird deutlich, wie sehr das Buch als Analogon dazu angelegt ist. Im Mittelteil/spiel schließlich vergisst der Autor sich selbst und verfasst denkwürdige Zeilen, stets mit dem Problem ringend, dass, vergleichbar der Mathematik oder Musik, das tiefe Entrücken und die ästhetische Befriedigung kaum in Worte zu fassen und erst recht nicht einem Unkundigen mitzuteilen seien. Auch der gealterte Gelehrte kann sich hier sein kindliches Staunen noch bewahren: "von dem schwindelerregenden Wissen, dass es beim Schachspiel nach den ersten fünf Zügen mehr Möglichkeiten gibt, als das Universum Atome enthält" [4], blieb er schon als Kind erschüttert und dieses kindliche Staunen bleibt ihm ein Leben lang.

Aber diese vulgären Unermesslichkeiten lassen die Malströmartigen Tiefen des Spiels kaum erahnen. Schon vor Beginn des Spiels treten sich die Figuren, mit ihrer feinen Anspielung auf menschenähnliche Boshaftigkeit, in elektrisierter Stille gegenüber. Mit dem ersten Zug scheint diese Stille wie gedehnte Seide zu zerreißen … Jeder Zug verfügt das betäubende Axiom moderner Kosmologie, dass es im ganzen Universum keine Bewegung gibt, die nicht jede andere Bewegung beeinflusst oder von jeder anderen beeinflusst wird...

"But these vulgar immensities give little inkling of the maelstrom deeps of the game. Even before start of play, the pieces with their subtle insinuation of near-human malevolence, confront each other across an electric silence. At the fist move, that silence seems to shred like stretched silk … Each move enacts the numbing postulate of modern cosmology that there is not a motion in the universe which does not affect and is not affected by every other motion…” (45f.).

Ekstatisch der Schluss:

Die Dichter lügen über den Orgasmus. Er ist ein kleines, riskantes Geschäft…, verglichen mit dem Crescendo des Sieges im Schach.

"The poets lie about orgasm. It is a small, chancy business…, compared to the crescendo of triumph in chess” (S. 47).

Schließlich zieht Steiner die große Summe, indem er unausgesprochen die Hauptfrage all seines Denkens stellt: "Was ist der Status von Bedeutung, was bedeutet Bedeuten" [5]. Anders gesagt: Kann einerseits Schach als Sprache fungieren und ist es in Sprache übersetzbar, andererseits, welchen moralischen und ontologischen Wert darf es beanspruchen? Hier darf man übertragen, was er an anderer Stelle über die Musik sagte: Es ist im höchsten Grade bedeutsam; es ist ebenfalls, streng genommen, sinnlos. [6]

Auch wenn die Mehrheit sich stets für Bingo statt Schach entscheiden wird, für die Seifenoper statt für Aischylos, für den kultivierten und in diesem Sinne konservativen, am Klassiker orientierten Kulturmenschen wird alles, "was schwierig, weil vorzüglich ist, die Rechtfertigung für das Leben darstellen" [7] und so auch das Schach. Daran ändert auch der erstaunlich niedrige Betrag der Gesamtsumme nichts, denn wer über mehrere kulturelle Bereiche souverän verfügt, für den muss sich die Bedeutung des Spiels zwangsläufig relativieren:

Schach mag sehr wohl der tiefste und am wenigsten ergründbare Zeitvertreib sein, aber es ist auch nicht mehr.

"Chess may well bet he deepest, least exhaustible of pastimes, but it is nothing more” (S. 57).

Bedauerlicherweise nahm Steiner die Feststellung wörtlich und verzichtete bislang darauf, seine Gedanken zum Schach in einem eigenen Werk zusammenzufassen. Es kann offensichtlich nicht die Aufmerksamkeit einfordern, die Literatur, Malerei, Musik beanspruchen, wenngleich es immer wieder im Werk präsent ist. Dort dient es als Analogon und Ideenreservoir. So etwa in "After Babel" von 1974, wo er im Zusammenhang der großen Frage, ob Sprache entropischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, schreibt:

Obwohl der große Meister Tartakower anders dachte, so schreiben wir doch Schachfiguren keine Gefühle oder einige Mysterien autonomer Wesen zu.

"Though the great master Tartakower thought otherwise, we do not ascribe feelings or some mystery of autonomous being to chess pieces." [8]

(Dass er hier irrt, haben Liccione/Festini zumindest halbüberzeugend nachgewiesen.). Verzichtet er auch in diesem Buch darauf, seine Kardinalfrage nach der Übersetzbarkeit von Sprachen auf das Schach zu übertragen – was, wenn es bedeuten sollte, denkbar wäre -, so wird doch deutlich, wie sehr es zum permanenten Gedankenhaushalt des klassisch Gebildeteten gehört.

Erst in seinem im Jahre 2001 erschienenen Spät- und Hauptwerk "Grammars of Creation" [9] wird dem Schach, wenn auch als Mittel zum Zweck, die entsprechende Aufmerksamkeit gezollt. Dabei ist die Relevanz offensichtlich, wo die Spanne zwischen den "semantischen Feldern von ‚Erfindung’ und ‚Schöpfung’ (invention und creation)" ausgelotet wird. Man kann Steiners Andeutungen weiterdenken und auf das Schach anwenden, natürlich nur unter Irrtumsrisiko.

Die Frage ist in unserem Kontext brisant: Ist der Schachspieler ein Erfinder oder ein Schöpfer? An der Beantwortung der Frage entscheidet sich u.a., ob Schach Kunst oder Wissenschaft oder gar nur Handwerk ist, ob es im höheren Sinne bleibt oder geht, ob es in der Lage ist eine "Offenbarung inkommensurabler Einzigartigkeit" zu schaffen, ob es Sprache sein kann, als Ausdrucksmöglichkeit taugt, schließlich ob es überhaupt bedeutet oder bedeutungslos ist. Die Rede vom "inneren Programm" des Schachs ließ Steiners wahrscheinliches Urteil bereits vage durchblicken.

Schöpfung meint hier nur in zweiter Linie den theologischen Akt, rekurriert vielmehr auf die künstlerische Schöpfung. Und die sieht der Philosoph im klassischen Kunstwerk verwirklicht, muss folglich modernen Kunstwerken, die auf einen transzendenten Sinnzusammenhang verzichten, den Kunstcharakter weitestgehend absprechen. Schöpfung und Erfindung meinen im früheren Vokabular das Primäre und das Sekundäre [10]: Letzteres - die Nachahmung, die Interpretation etc. - droht zusehends das Primäre zu verdrängen. Hat dieser bedauernswerte Verlust auch eine lange Geschichte – Steiner zeichnet sie in groben, oft allzu groben Zügen nach - vom antiken Epos und Drama über Dante, Shakespeare, Goethe und Hölderlin bis hin zu Kafka, Heidegger und Celan (um nur die wichtigsten Markierungen zu nennen) -, so lässt sich der eigentliche point of no return namentlich machen: Marcel Duchamp. Der Umschlag vollzieht sich mit dessen Aussage: "Die Malerei ist beendet. Wer kann Besseres schaffen als diesen Propeller?" Von hier ab, so Steiner, gilt:

Erfindung ist als die primäre Art der Schöpfung in der modernen Welt identifiziert.

"Invention is identified as the primary code of creation in the modern world”(274).

Duchamps Hinwendung zum Schach hat daher tiefere Bedeutung:

Es folgt, dass Kunst zum dilettantischen Luxus verkommt, dass ein Marcel Duchamp besser beim Schach aufgehoben ist. Auch hier, wenn das Wortspiel erlaubt sei, ist der Zug perfekt kalkuliert und bedeutsam. Wie die Kunst, Poesie oder Musik ist das Schach transzendental trivial … Der Schachmeister (Duchamp spielte 1930 hinter Aljechin am zweiten Brett für Frankreich) ist ein Hohepriester des Irrelevanten.

"It follows that art is becoming amateurish indulgence, that a Marcel Duchamp is better employed at chess. Here also, if the pun is allowed, the move is perfectly calculated and significant. Like art, po-etry or music, chess is transcendentally trivial. … The chess master (Duchamp played second board for France just behind Alekhine in 1930) is a high priest of the irrelevant” (S. 274).

Es ist der Verweigerungsakt des genialen Künstlers weiterhin künstlerisch schöpferisch zu sein, den der klassisch orientierte Denker nicht akzeptieren will. Dass für Duchamp das Schach – in dem er, trotz guter Ergebnisse – eben nicht zu Hause ist, dessen eigentliche Sprache er nicht spricht, zum Kunstsurrogat wird, torpediert nicht nur den Steinerschen Kunstbegriff, sondern diskreditiert auch das Schach als erfinderisch; der Ritterschlag des Schöpferischen muss ihm verwehrt bleiben. Es ist eben nur "wie die Kunst".

(Aus anderem Blickwinkel, von Duchamp ausgehend, kann das freilich ganz anders wahrgenommen werden, da der Akt der Wahl Kunst konstituiert. Anlässlich seines berühmten Pissoirs – "Fontain" -, das er pseudonym als "Mr. Mutt" schuf, schrieb Duchamp: "Ob Mr. Mutt die Fontaine mit seinen eigenen Händen gemacht hat oder nicht, hat keinerlei Bedeutung. Er hat sie AUSGEWÄHLT. Er nahm einen gewöhnlichen Gegenstand des alltäglichen Lebens, platzierte ihn so, dass seine nützliche Signifikanz unter dem neuen Titel und Blickwinkel verschwand – schuf einen neuen Gedanken für das Objekt" [11]. Dies gilt in gewisser Weise auch für das von Duchamp gewählte Schachspiel, auch wenn er es nie als Kunstwerk deklarierte; die dominante Rolle des Schachs in seinem Gesamtwerk unterstreicht allerdings die symbolische Bedeutung. So erhält es letztlich doch seinen Kunstcharakter, wenn auch nicht als "Kunst an sich", als "intrinsische Ästhetik", als "schöne Partie" oder dergleichen aber im künstlerischen Wahlakt kann es zur Kunst erhoben werden. Es ist mühselig zu betonen, dass die Qualität der Partie dabei nicht primär sein kann. Steiner scheint diese "Öffnung" durch die moderne Kunst nicht sehen zu wollen.)

Ob die Zuschreibung den Tatsachen entspricht, lässt sich, entgegen der alltäglichen Erwartung, nicht aus dem scheinbar berufenen Munde des Schachmeisters erfahren, ebenso wie man über den Status des Mathematikers von diesem selbst nichts Brauchbares erwarten darf.

"Das Problem ist, dass diese maßgeblichen Referenzen nicht zwischen Schöpfung und Erfindung unterscheiden. Im täglichen Sprachgebrauch hört man Mathematiker das Schöpfertum über die Erfindungsgabe einordnen. Aber, soweit ich einschätzen kann, ist diese Unterscheidung eher impressionistisch (eindrucksabhängig) als definitorisch. Was diesem Ad-hoc-Gebrauch unterliegt ist exakt die erkenntnistheoretische Unsicherheit…"

"The trouble is that these authoritative testimonials do not distinguish between creation and inven-tion. In every day parlance, one does hear mathematicians place creativity above inventiveness. But, so far as I am aware, the distinction is impressionistic rather than definitional. What underlies this ad hoc usage is, precisely, the epistemological uncertainty …” (S. 148).

Trotzdem bildet das mathematische Terrain, an dessen Horizont auch das schachliche ruht, den idealen Boden, Grundsatzfragen zu klären. Denn gerade in der Mathematik, auf dem Gebiet der vermeintlich festen Gesetzmäßigkeiten, lässt sich der Sinn der Dichotomie invention/creation bestens sichtbar machen. Hier schwebt das Urteil nämlich nicht im freien Raum, Geschmack und Zeit spielen keine Rolle: zwei plus zwei ist vier. Ist das nun er- oder gefunden? Schafft die Mathematik ihre intrinsischen Gesetze/Relationen oder sind sie irgendwie da, kosmo- oder theologisch gegründet, und müssen nur erkannt werden? Steiner gesteht hier seine partielle Inkompetenz ein; Vorteil und Bürde des Philosophen sind es, auch gegen die Kompetenzen denken zu können, er darf sich Äußerungen über Dinge erlauben, von denen er nichts versteht, in erster Linie weil er nicht in sie verstrickt ist. Und wenn man schon der Mathematik gegenüber ohnmächtig ist, so können schachliche Analogien – sofern man sich des Unterschieds bewusst bleibt – helfen:

Nichts finde ich frustrierender, demütigender als meine Unfähigkeit, als mathematischer Analphabet, das lichtvolle Königreich der ‚wahren Schönheit’ zu begreifen. Ich bin lediglich dazu in der Lage vage zu simulieren, indem ich versuche die Gegenwart der Schönheit im Stile gewisser Schachmeister, in der Anordnung und Lösung gewisser Endspiele und Schachprobleme zu erfahren, versuche zu analysieren. Aber auch hier ist die "Schönheit der Wahrheit", auf eine komplizierte Art und Weise, trivial. Die der Mathematik ist es nicht. Schon wieder tritt Musik in diese Dialektik ein. Wie kann man deren Nichttrivialität definieren, deren äußerste Ernsthaftigkeit, mit den Gemeinsamkeiten in kodierten formalen Strukturen und wahrscheinlich in psychischen Ursprüngen, die mit beiden, Mathematik und Schach, bestehen? Oder wie kann man in dieser Konstellation die beunruhigende Tatsache erklären, dass bestimmte Kombinationen im Schach offensichtlich schön sind und trotzdem als fehlerhaft nachgewiesen werden können? Es gibt keine Schönheit im mathematischen Fehler.
G.H. Hardy’s "Apologie eines Mathematikers” trifft denselben ästhetischen Ton wie Poincaré. ‚Ein Mathematiker, nicht anders als ein Maler oder Dichter, ist ein Macher von Mustern (patterns)’. Hardy versteht diese Muster als dauerhafter denn jede andere in Literatur oder Kunst, weil ‚sie mit Ideen gemacht wurden’, deren Wahrheit, deren Konsistenz auf ewig bestehen können. Die Schachanalogie aufnehmend, findet Hardy, dass die Schönheit mathematischer Muster die eines jeden Schachspiels oder -problems überschreitet.

"I find nothing more frustrating, more humbling, than my incapacity, as a mathematical illiterate, to grasp this lucent realm of ‚truth beauty’. I am only able to simulate indistinctly by trying to experi-ence, by trying to analyse the presence of beauty in the style of certain chess masters, in the configu-ration and solution of certain endgames and chess problems. But here the beauty of the truth is, in some complicated way, also trivial. That of mathematics is not. Yet again, music enters the dialectic. How is one to define its non-triviality, its uttermost seriousness, with its affinities, in encoded, for-mal structures, and possibly in psychic origins, with those of both mathematics and chess? Or how is one to account, in this constellation, for the unsettling fact that certain combinations in chess display obvious beauty yet can be shown unsound? There is no beauty to mathematical error.
G.H. Hardy’s A Mathematicians Apology strikes the same aesthetic chord as does Poincaré. ‘A mathematician, like a painter or a poet, is a maker of patterns.’ Hardy takes these patterns to be more permanent than any in literature or art because ‘they are made with ideas’ whose verity, whose con-sistency can be established forever. Taking up the analogy with chess, Hardy finds that the beauty of mathematical patterns … surpasses that of any chess game or problem.” (147f.).

Die Frage bleibt unbefriedigend beantwortet, kein Wunder, dass Steiner sich ins Paradox flüchtet:

Reine Mathematik schafft, was sie entdeckt und entdeckt zugleich, was sie schafft.

"Pure mathematics creates what it discovers, yet also discovers what it creates"(154).

Nur Mathematiker können die jeweiligen Ansprüche auf Schöpfung, auf Erfindung und auf Entdeckung im mathematischen Prozess beurteilen.

"Only mathematicians can asses the respective claims to creation, to invention and to discovery in the mathematical process"(171).

Schließlich widmete sich Steiner ein drittes Mal dem Schach. Diesmal nimmt er das Großereignis Deep Blue versus Kasparow zum Anlass, um seine sorgenvollen Gedanken über die Entwicklung der Computertechnik durch beispielhafte Schockerlebnisse Beweiskraft zu verleihen, denn für den wertkonservativen Denker sind sie, die Computer,

weit mehr als titanische Rechenschieber und Zahlenmampfer. Sie versuchen, die zerebralen Prozesse zu simulieren, jene Prozesse nachzuahmen, die sie in die Existenz gebracht haben.

"... far more than the titanic slide-rules and number-crunchers. They aim to simulate, to mime the cerebral processes which have brought them into existence" (245).

Wenn diese Prämisse stimmt, dann wäre Steiners Schlussfolgerung tatsächlich zwingend:

Der Schachsieg von IBM's Deep Blue über Kasparow wirft Fragen auf, die weit jenseits des anläßlichen Schocks anzusiedeln sind.

"The victory at chess of IBM’s Deep Blue over Kasparov raises questions well beyond the shock of the occasion".

Aber es ist die Prämisse, die des Beweises bedarf, und der muss auf einer Metaebene erbracht werden; Beispiele dieser Art beweisen nichts, nichts zumindest was über Indizien hinausginge. Den Faden, den Steiner nun weiterspinnt, könnte man aus guten Gründen an der Prämisse schon abschneiden (an anderer Stelle habe ich versucht aufzuzeigen, weshalb der Computer aus spielinternen Gründen nicht gegen den Menschen wird gewinnen können http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Philo/computer.php).

In einem der formal profundesten, bezauberndsten und unerschöpflichen menschlichen Betätigungen, kann von nun an keine lebende Person mehr als überlegen betrachtet werden. In der "letzten Analyse" – ein verräterischer Ausdruck – wird sich die Maschine als stärker (und immer noch stärker) erweisen. Ich finde das zugleich faszinierend und tieftraurig.

"In one of the formally profoundest, most entrancing and inexhaustible of human pursuits, no living person can, henceforth, be regarded as supreme. In ‘the last analysis’, a betraying phrase, the ma-chine will prove stronger (and stronger). I find this at once mesmerizing and deeply sad” (246).

Selbst wenn dies aufs Schach bezogen nicht korrekt sein sollte (…und wir alle wissen, wie enorm fehlerhaft Computer noch immer spielen, von den "seltsamen Umständen" des Deep-Blue-Matches mal ganz zu schweigen. Der Grundfehler Steiners liegt allerdings in der Annahme der Unerschöpflichkeit des Spiels), so ist die technische Überlegenheit des Computers auf vielen zerebralen Gebieten schon jetzt fraglos. Trotzdem steht der Mensch damit nicht vor einer neuen Situation. Steiner übersieht hier die in der philosophischen Anthropologie seit Arnold Gehlen gängige Definition des Menschen als Mängelwesen und noch nicht festgestelltes Tier. Man müsste sonst, vereinfacht gesagt, darüber traurig sein, dass der Gepard schneller rennt und der Fisch tiefer taucht und der Adler schärfer sieht und der Hund besser… In allen physischen Belangen ist der Mensch zu schlagen, ist er verwundbar und das seit je. Es ist diese Kombination aus Schwächen, die "ganze Breite der elementaren Innerlichkeit; die Gedanken und die Sprache, die Phantasie, die sonderbaren bebilderten Antriebe, die kein Tier hat, die einzigartige Motorik und Beweglichkeit…die sich dann alle gegenseitig erläutern und aufeinander hinweisen" [12] und die schließlich zu Schaffung der lebenswichtigen Institutionen führen, welche wiederum die deutlichste Differenz zum Tier darstellen und die temporäre Überlegenheit des Menschen begründen. Der Computer ist nichts anderes als eine solche Institution im weitesten Sinne, bzw. ein Teil dieser. So gesehen muss Steiners orakelhafte Frage, bei aller sachlichen Berechtigung, nicht beunruhigen:

Aber die herausforderndste Ungewissheit liegt an der Grenze zwischen dem Psychologischen und dem Philosophischen. Eine Anzahl von Spielern, die gegen Computer gespielt haben, die in deren Programmierung involviert waren, hat sich gefragt, ab welchem Moment Geschwindigkeit und Berechnungsverzweigung in "etwas anderes" übergehen. Die skeptische Antwort würde lauten, dass unsere konventionelle Unterscheidung zwischen Berechnen/Bewerten und Denken geändert werden muss. In einem regelstrengen Zusammenhang wie dem Schach, ist Berechnen/Bewerten Denken. Aber ist diese Reduktion völlig überzeugend? Gibt es Raumkonzeptualisierungen und Weitblick, erzeugt vom Computer, die doch dem Denken näher zu sein scheinen als dem Berechnen/Kalkulation, einem wie auch immer schwierigen automatischen Prozess? Ist da mehr als anthropomorphe Verzweiflung in Kasparows überlieferter Bemerkung, hinsichtlich einer phänomenalen Zugfolge in der fünften Partie des Matches, dass Deep Blue "denke"?

"But the most challenging uncertainty lies at the borders between the psychological and the philosophic. A number of players who have encountered computers, who have been involved in their programming, have wondered at what point speed and ramification of calculations shade into ‘something else’. The sceptical answer would be that our conventional differentiation between calculation and thought needs to be revised. In a rule-bound context such as chess, calculation is thought. But is that reduction altogether convincing? Are there spatial conceptualizations and foresights generated by the computer which seem closer to ‘thought’ than to calculation, an automatic process however arduous? Is there more than anthropomorphic exasperation to Kasparov’s reported remark, concerning a phenomenal sequence of moves in the fifth game of the match, that Deep Blue was ‘thinking’?” (246).

George Steiner ist – nirgendwo wird dieses deutlicher als in seinem letzten Buch – ein Warner aus der Vergangenheit heraus. Weniger die Sorge um die Zukunft denn die Trauer um den Verlust der guten alten Zeit bewegt sein Denken. Die verlorene Fülle einzuklagen ist gutes Recht und war noch nie so notwendig wie heute, aber sie wäre umso gerechtfertigter, wenn sie sich aktiv gestalten würde, wenn sie also Vergangenes aus dem Jetzigen und Zukünftigen als lebbare Alternative zur Seite stellen würde, wenn sie zu zeigen versuchen würde, was möglich war und gewesen wäre, anstatt sich als Bürde darzustellen, die man, aus welchem Grund auch immer, mitzuschleppen habe. Man wird Dante und Milton in hundert Jahren nur noch dann lesen, wenn es gelingt nachzuweisen, dass sie noch immer Lösungen für jeweilige Existenzialprobleme bieten. Die reine klassizistische Liebe zum literarischen Kleinod wird dazu nicht ausreichen. Steiner scheint dies zu ahnen; sein melancholischer Grundton speist sich sowohl aus der Trauer als auch aus diesem Wissen. Schöpfertum statt Erfindungsreichtum, creation vor invention – sein eigenes Werk ist überreich an gefundenen Konnotationen, aber ist es schöpferisch?

 

--- Jörg Seidel, 16.10.2002 ---


[1] Steiner selbst bestand ausdrücklich darauf, kein professioneller Philosoph zu sein – wenn er hier so bezeichnet wird, dann wird stillschweigend ein weiterer Philosophiebegriff vorausgesetzt. "Ich bin kein professioneller Philosoph… Mein eigenes Gebiet ist das Studium der Sprache, ihres Verhältnisses zur Literatur einerseits und zur Geschichte der Ideen und der Gesellschaft andererseits" (George Steiner: Martin Heidegger. Eine Einführung. München 1989. S. 59; vgl. auch 60f)
[2] Martin Meyer in: Neue Zürcher Zeitung, 9. Oktober 2001
[3] alle Übersetzungen J.S.; Da es sich um zum Teil diffizile Passagen handelt, wird der jeweilige Originaltext angefügt.
[4] George Steiner: Errata. Bilanz eines Lebens. München 1997. S. 13
[5] George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990. S. 128
[6] Errata: 102
[7] Errata: 156
[8] George Steiner: After Babel. Aspects of language and translation. Oxford 1998. S. 21
[9] George Steiner: Grammars of Creation. London 2001
[10] so die Gegensatzbegriffe in "Von realer Gegenwart"
[11] Marcel Duchamp: "Der Fall Richard Mutt". 1917. zit. In: Calvin Tomkins: Duchamp. München/Wien 1999. S. 219.
[12] Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt. Wiesbaden 1986 (1940)


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