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Schachpsychologie.
über Erkenntnis, Vorstellungsvermögen
und Gefühle beim Schachspiel
"Der Penis ist ein Phallussymbol."
Woody Allen
Obwohl die Psychologie im Schach ein
immer und immer wieder thematisiertes Gebiet darstellt,
sind substantielle Beiträge umfassender Art auf
dem Buchmarkt die Ausnahme, erst Recht, wenn man diesen
stiefmütterlich behandelten Bereich der Flut an
eröffnungs- und spieltaktischen Arbeiten vergleichend
gegenüberstellt. Das erklärt, weshalb ein
so hausbackener und wenig origineller Titel wie Munzerts
"Schachpsychologie" plötzlich zum
"Standardwerk" und "bestem Buch zur Thematik,
weltweit" erklärt werden konnte und sein Autor
seither zum Schachpsychologieguru erkoren wurde. Doch
das täuscht den kritischen Leser nicht darüber
hinweg, dass seit de Groot und Krogius nichts Vergleichbares
mehr auf den Markt kam, dass wir uns noch immer mit
Modellen aus den 50er und 70er Jahren begnügen
müssen.
Jeder
ernsthafte Beitrag zur Schachpsychologie ist folglich
wärmstens zu begrüßen und wenn zwei
gestandene Professoren und Therapeuten sich des Themas
ausgiebig annehmen, so darf man das Beste hoffen. Wally
Festini, Professor in Padova und Bologna (?) und Davide
Liccione, Leiter einer Neuropsychischen Klinik in Allessandria,
haben vor nunmehr drei Jahren ein vielversprechendes
Buch unter dem Titel: "Psychologie des Schachs.
Kognitive, Immaginative und affektive Aspekte des Spiels"
herausgebracht, mit dem sie ein erstaunlich weites psychologisches
Terrain abzustecken gedachten, denn die behandelten
Themen reichen von methodologischen Überlegungen
über die verallgemeinerte Charakteristik der Schachspieler
und die zwischengeschlechtlichen Beziehungen beim Spiel,
bis hin zur Untersuchung sozialer Repräsentationen
und affektiver Symbolisationen. Und als sei dies alles
noch nicht genug für ein einzelnes Buch, widmen
sie sich auch noch dem Problem der kognitiven Leistung,
dem Schach-Computer-Problem und dem Zusammenhang von
Schach und Wahnsinn. Aber können diese Ambitionen
alle eingelöst werden?
Gleich vorweg: Interesse verdienen lediglich
die ersten vier Kapitel, denn was dem Leser auf den
letzten sechzig Seiten geboten wird, hat mit psychologischer
Forschung nichts mehr zu tun, insofern lediglich bekannte
Texte referiert werden und dies noch nicht mal in kritischer
Absicht. Der Erkenntnisgewinn tendiert gegen Null, zumindest
für all jene, die schon einen Einblick in die psychologische
Literatur haben. Da wird ein bisschen über Kurz-
und Langzeitgedächtnis sinniert, ausgehend von
de Groots psychostatistischen Untersuchungen über
Patterns (Muster) und Memorierungsleistungen. Von daher
wissen wir schon, und nicht erst seit Wally/Festini,
dass das Kurzzeitgedächtnis des Meisters durchaus
nicht besser arbeitet als das des Durchschnittsspielers
(165), dass er hingegen sich auf Patterns stützen
kann, die wiederum durch jahrzehntelange Erfahrung angeeignet
wurden. So ist es dem durchschnittlichen Kurzzeitgedächtnis
möglich, 7 ± 2 Informationen innerhalb weniger
Sekunden zu speichern, und wenn es gilt, in dieser Zeit
eine soeben gesehene Stellung zu rekapitulieren, dann
ist der erfahrene Spieler, der sie etwa als Ruy Lopez,
Archangelsk-Variante mit 10.Sc6 (wie in Anand-Topalov
Linares 1997) oder als Stellung aus Aljechin –
Capablanca identifiziert, eben im Vorteil, weil er sich
alle Zwischenschritte sparen kann und statt 7 ±
2 Daten zu speichern, sich mit diesem einen Datum begnügen
darf und demzufolge noch weitere 6 ± 2 Informationen
behalten kann. Und bei ca. 50000 gespeicherten, erinnerbaren
Figurenkonfigurationen, die dem Meister zugeschrieben
werden, ist der Vorteil evident. Was diese Untersuchungen,
schon bei de Groot, nicht leisteten, ist, zu fragen,
weshalb 50000 gespeicherte Partiedaten die aktuelle
Spielstärke derart beeinflussen sollen, denn Schach
ist doch kein Memorierungsspiel, in dem derjenige gewinnt,
der die meisten Stellungen abrufbar im Kopf hat. Kasparow
gilt hierin ja als Meister aller Klassen, insbesondere
im Eröffnungsbereich; von ihm Geschlagene werden
seit Jahren nicht müde, zu betonen, dass sie nur
gegen dessen Eröffnungsvorbereitung verloren hätten;
tatsächlich aber ist seine Fehlerrate wohl auch
danach ungewöhnlich gering. Anders gesagt: selbst
wenn ein schwächerer Spieler bis in den 24. Zug
die beste Eröffnung gespielt hätte und vielleicht
sogar vorteilhaft stünde, so würde er noch
immer gegen Kasparow verlieren. Die beiden Autoren sind
sich des Problems sogar bewusst, können aber trotzdem
keine überzeugende Lösung anbieten: "Da
es ganz sicher nicht die Aufgabe eines Schachspielers
ist, außergewöhnliche mnemonische Vorstellungen
zu geben, so sehen wir jetzt, wie diese Interaktion
Kurzzeitgedächtnis – Langzeitgedächtnis
gestattet, das Spiel auf einige Züge voraus zu
planen, um so das Hauptziel der Planung zu erreichen:
den Sieg" (175). Die bloße Behauptung ist
noch kein Beweis für deren Richtigkeit. So bleibt
doch nur ein mageres, zudem zirkuläres Endergebnis:
"Also, eine derjenigen Qualitäten, die den
guten Schachspieler (besonders den Meister) von einem
normalen Spieler unterscheiden, ist die Fähigkeit,
den Gebrauch des Langzeitgedächtnisses maximal
auszunutzen, wobei sie sich auf die Hilfe von Informationen
stützen, die fester Bestandteil des früheren
Bewusstseins sind und die im Langzeitgedächtnis
lagern" (179). Aber wie? Aber wie?
Dieses Gefühl des Unbefriedigtseins
stellt sich beim Leser auch bei an sich originellen
Gedanken der beiden ein, etwa wenn sie – gegen
den Mainstream – auf die Gefahren des Schachs für
Adoleszenten hinweisen, sofern bestimmte Bedingungen
nicht gegeben seien. dass das Schach aggressives Verhalten
bei aufwachsenden Personen potenzieren könne, dass
es Grund zu Frustration, dass es zur, vor allem in Verbindung
mit dem Computer, Droge werden könne, das alles
müsste empirisch belegt und inhaltlich vertieft
werden, wenn es denn Wert beanspruchen wollte, aber
es bleibt einfach nur Meinung und deswegen dürfen
wir es wieder vergessen.
Im Computerartikel sinnen die Autoren
ein wenig über das Deep Blue - Match nach, ohne
dass man den Bezug zur Psychologie noch erkennen könnte
und im Abschnitt "Schach und Wahn" werden
als Quellen doch tatsächlich Zweig und Nabokow
zitiert, deren literarische Helden bekanntermaßen
Züge von Wahnsinn zeigten, als gäbe es keine
Differenz zwischen realen und literarischen Figuren.
Hier wird ganz einfach das Thema verfehlt. Sie kommen
dann noch auf die psychoanalytischen Arbeiten von –
auch das sind alles alte Kammellen – Ernest Jones
und Reuben Fine zu sprechen, mit dem zweifelhaften Erfolg,
festzustellen, "dass nicht das Schach den Wahnsinn
hervorruft, sondern, ganz im Gegenteil, dass sich ein
psychisches Unbehagen des Spiels bedient, um sich selbst
zu verteidigen" (216). Zu diesen belanglosen letzten
Kapiteln schrieben die Autoren selbst ein kongeniales
Schlusswort: "Psychoanalyse und Psychiatrie enthalten
das Risiko, eine eigene irrealistische Objektivierung
zu produzieren, die in Versuchung führt, bewusst
oder nicht, einen wissenschaftlichen Überzug zu
verleihen ..." (217f.).
Viel mehr ernst zu nehmen sind die ersten
Kapitel des Buches; es sind auch jene, bei denen sich
die Autoren auf eigens erstelltes empirisches Material
berufen.
Das Buch hebt mit einer interessanten
Prämisse an: "Das Schachspiel und die Spieler
sind ein besonders interessanter Untersuchungsgegenstand
für die Klinische Psychologie (sic!) und die Kognitive
Psychologie. Unserer Meinung nach gibt es mindestens
vier große psychologische Themen, die aus dem
Schachspiel erwachsen:
1.
die schachliche Beziehung zwischen Mann und Frau
2. die Verwicklungen des Spiels im Lichte seiner symbolischen
und affektiven Aspekte
3. die vom Spiel verlangten kognitiven Fähigkeiten
4. die Beziehung zwischen Mensch und Computer und seine
Implikationen im Spiel" (11)
Der ganze weitere Ablauf macht jedoch
zu deutlich und stutzig, dass es vor allem das "Frauenproblem"
ist, welches die Autoren umtreibt und man wird sich
fragen müssen, ob dieses verallgemeinerbar ist
oder aber, ob es sich um ein rein privates Problem der
beiden Männer handelt, das hier nur auf einen an
sich mehr oder weniger neutralen Gegenstand projiziert
wird. Was es bedeute, gegen Frauen zu gewinnen und zu
verlieren und weshalb, welche differente Emotionen dies
hervorrufe, das mag nicht für jedermann relevant
sein und lässt sich auch nicht aus der bloßen
statistischen Seltenheit eines solchen Aufeinandertreffens
(aus der männlichen Sicht) erklären, wie die
Autoren insinuieren wollen (12). Umgekehrt wäre
es ja auch interessant, wie Frauen den für sie
dauernden Kampf gegen Männer erleben, doch davon
ist keine Rede. Viel mehr scheint hier ein Problem thematisiert,
das in einer maskulinen Gesellschaft wie der italienischen
ein viel größeres Bedeutungspotential besitzt
als etwa in der unsrigen. Die Überlegenheits- und
Dominanzidee des Männlichen lässt sich –
die Erfahrung macht jeder Urlauber – quantitativ
in groben Zügen als Süd-Nord-Gefälle
beschreiben. Was die beiden Wissenschaftler hier also
unausgesprochen leisten, ist vielleicht mehr eine Psychoanalyse
der italienischen Machogesellschaft denn eine adäquate
Beschreibung der Schachproblematik, wenngleich das "Problem"
natürlich existiert. Psychologische Untersuchungen
haben aber stets die Aufgabe, nicht-allgemeintypische
Verschiebungen auszuschließen oder die Relevanz
entsprechend einzuengen.
Diesen und anderen Fragen will sich das
Autorengespann mit Hilfe zweier methodischer Verfahren
nähern: dem Interview und der semantischen Differenzierung,
sowie freien Assoziationen und affektiven Kodierungen
nach psychoanalytischem Modell (14). Entgegengesetztere
Methoden kann man sich kaum denken; zum einen das strenge
statistische Verfahren, zum anderen der Freifahrtsschein
für wilde Phantasien. Beides kann interessant sein,
aber ist es miteinander vereinbar? Akademiker würden
freilich nur die erste Methode gelten lassen.
Die Umfrage umfasst nun folgende Daten:
44 verschiedene Fragen wurden gestellt, die zum Teil
assoziativen (z.B.: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie
gegen einen schwächeren Gegner gewinnen?), suggestiven
(z.B.: Scheint Ihnen das Schachspiel mit Situationen
der Realität vergleichbar?) und auswählenden
Charakters sind (z.B.: Welche der folgenden Adjektive
verbinden Sie mit der Figur des Bauern: schön –
hässlich +2 +1 0 –1 –2 usw.). Befragt
wurden zwei Gruppen von Turnierteilnehmern, wobei beide
Gruppen unterschiedliche Fragen vorgelegt bekamen. Die
erste Gruppe bestand aus 100 Spielern, darunter 12 Frauen,
der Mailänder Schachgesellschaft (Frage 1 –
35), die zweite Gruppe aus 40 Spielern, darunter 5 Frauen,
der Provinz Alessandria (Frage 36 – 44). Die methodischen
Schwierigkeiten einer solchen Umfrage sind sofort einsichtig.
Erstens wird gegen eine statistische Grundregel verstoßen,
die für eine repräsentative Umfrage eine kritische
Menge verlangt, die über 1000 Personen beträgt.
Und zweitens bedarf es immer einer Kontrollbefragung
einer Parallelgruppe. Wieso also die Alessandriner andere
Fragen vorgelegt bekommen als die Mailänder, ist
schwer einzusehen. dass es logistischer Anstrengungen
bedarf, 1000 Schachspieler zu befragen, kann man sich
vorstellen, aber die Autoren hätten wissen müssen,
dass eine Signifikanz einfach nicht vorliegt. Alle nun
folgenden Ergebnisse sind wissenschaftlich gesehen wertlos
und nur unter dieser Einschränkung zu lesen. Da
die Autoren aber ausgiebig und vollen Ernstes mit unzähligen
Prozentrechnungen hantieren, muss fast fahrlässige
Irreführung unterstellt werden. So kommt es z.
B., dass 4% in Margarete Thatcher und 2% (?) in Ornela
Muti die Dame symbolisiert sehen, tatsächlich verstecken
sich dahinter aber Einzelpersonen und Einzelmeinungen
und es ist nicht anzunehmen, dass von 10000 Schachspielern,
selbst in Italien, 400 ein Thatcher- und 200 ein Muti-Symbol
in den Händen zu halten glauben, wenn sie die Dame
ziehen. Vielmehr sollte man vermuten, dass der Prozentsatz
dieser sehr konkreten Art Phantasie gegen Null tendiert.
Trotz dieses geballten methodischen Unsinns
ist das Buch eine Bereicherung der schachpsychologischen
Literatur, weil es einige wirklich wichtige Fragen stellt
und weil einige Antworten zumindest Tendenzen erahnen
lassen.
So könnte der soziale Anteil von
29% (oder 29 Individuen) Angestellter und Beamter, 28%
Studenten (aber ist das nicht die Verfälschung
einer Universitätsstadt?) und 20% Unternehmer durchaus
tendenziell der Realität nahe kommen und bestätigen,
dass das Schach längst kein Spiel mehr des Arbeiters
(11%) ist. Der Unternehmeranteil bei den Frauen war
übrigens wesentlich höher (34%), was darauf
hindeuten könnte, dass vor allem die selbstbewussten
und erfolgreichen Frauen zum Schach finden, wenngleich
– das dürfen wir nicht vergessen – es
sich um 34% von 12 handelt, also rein zufällig
sein könnte (31, 36). Die "Schlussfolgerung"
klingt zu gut, um sie zu unterschlagen: "...dass
nur die Frauen mit einem bestimmten soziokulturellen
Niveau sich der Schwierigkeit stellen, in einen exklusiven
männlichen Kreis einzutreten... Das könnte
auf ein Übertretungsverlangen hinweisen, sei es
in der Berufswahl oder im Spiel. In diesem Fall erschien
die Tendenz evident, sich mit dem Manne gerade auf dessen
eigensten Gebiete zu messen: der intellektuellen Aktivität
und dem Schachspiel" (32). Auffälligerweise
scheinen Frauen das Schach auch erst wesentlich später
zu erlernen. Über 70% aller Befragten eigneten
sich das Spiel während der Kinder- und Jugendzeit
an, nur ganz wenige nach dem 29. Lebensjahr, außer
bei den Frauen, wo 60% zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr
mit dem Spiel begannen. Die Autoren interpretieren den
Sachverhalt mit den diversen Motivationen: während
die einen den schachlichen Erfolg suchen, nutzen die
anderen das Schach als Entspannungs- und Freizeitbeschäftigung,
ohne Karriereambitionen (35). Einleuchtender scheint
jedoch zu sein, diese Differenz mit verschiedenen Erziehungs-
und Entwicklungswegen verständlich zu machen.
Man kann einen der größten
Vorteile der vorliegenden Arbeit darin sehen, sich,
im Gegensatz zu den klassischen Studien, nicht auf die
Meisterspieler als Ziel und Gegenstand zu beziehen.
Ohne die Bedeutung der agonistischen Züge zu negieren,
wird vorgeschlagen, eine mögliche Integration zwischen
dem Schach und den vielfältigen Lebensaktivitäten
in einem harmonischen Gleichgewicht, welches das Wohlbefinden
und psychisch-physische Gesundheit wahrt, zu studieren.
"Der schachliche Erfolg ist also nicht ein absoluter
Wert: er kann Realisierungsziel sein, wenn er in die
Richtung des psychischen Gleichgewichtes geht, aber
seine obsessive Verfolgung kann auch ein neurotisches
Symptom eines Unwohlseins und einer Disharmonie zwischen
Spieler und Welt enthüllen" (37). Jeder Leser
mag selbst assoziativ Namen der Schachgeschichte und
-gegenwart einsetzen. Man wünschte sich, dass mancher
übereifrige, verbissene Jugendtrainer und/oder
Vater die folgenden Worte verstünde: "Ein
Kind, das mehrere Stunden am Tag am Schachbrett verbringt,
könnte riskieren, vorzeitig ein zu bewegungsarmes
Leben zu führen und sich einem schweren
und (einseitig) zerebralen Spiel zu widmen,
auf Kosten des Vergnügens leichterer und weniger
in Anspruch nehmender, aber für sein Alter viel
angepassterer Unterhaltungen" (37), denn die Kindheit
sei Vorbereitung auf das Leben in all seiner Vielfalt
und das halte potentiell mehr bereit als nur Schachspielen [1].
Es geht, wie immer, um die rechte Balance. Aber auch
in bereits nicht mehr ausbalancierten Situationen kann
das Schachspiel zum Helfer, ja zum Lebensretter werden.
Immerhin 11% der Gefragten "hatten das Schach genutzt,
um kritische Situation physischer Krankheit und sozialer
Notfälle zu meistern ... In allen diesen Fällen
ging klar hervor, dass das Spiel einen konsolidierenden"
Wert annimmt, der sich auf vier besondere Eigenschaften
gründet:
-
die Fähigkeit, vollständig die intellektuelle
und affektive Energie zu absorbieren, sich von der
äußeren Welt abzuschotten;
- die Qualität der Unterhaltung;
- der relationale Aspekt des Spiels, der eine Beziehung
mit einem anderen festsetzt, ob abwesend
oder anwesend;
- die Kontraktion der Zeit, die im Verlauf der Partie
schnell vergeht" (39f.) [2]
In dieser Attraktion liegt allerdings
auch eine Gefahrenquelle und 13% der Befragten gaben
den Aspekt auch an: wenn "das Schach die Aufmerksamkeit
vollständig auf sich zieht, und gestattet, die
Probleme des Lebens zu vergessen", dann wird der
"Aspekt der Flucht" (41) aus der Realität
angesprochen. Sofort erhält das an sich harmlose
Spiel eine ethische Komponente, die für die Autoren
- allerdings schon auf symbolischer Ebene - selbst im
Spiel virulent ist: "Das Schach repräsentiert
ein einzigartiges soziales Universum aus drei Motiven:
erstens haben alle Figuren eine wichtige Rolle und der
Sieg ist nicht an Einzelaktionen gebunden, sondern hängt
von den Gruppenaktionen ab; zweitens ist der König
allein, ohne die anderen Figuren, wertlos; drittens
gewinnt der Spieler nur, wenn er fähig ist, und
nicht, wenn er Glück hat. Also findet man auf dem
Schachbrett mehr "Demokratie" als in der realen
Welt, wo die Macht nicht immer den Fähigkeiten
entspricht und wo das Glück oft entscheidender
Faktor ist. Schachspielen bedeutet also, für eine
kurze Zeit in einem utopischen Universum zu leben, in
einer idealen Welt der kompensatorischen Konnotationen"
(43).
Wenn Festini/Liccione sich dann dem heimlichen
Herzstück ihrer Untersuchung widmen, der Mann-Frau-Beziehung,
dann stehen Sie vor besagtem methodischen Problem, denn
sie können sich auf lediglich 88 männliche
und 12 weibliche Befragte beziehen. Und was tun, wenn
von den 88 Männern auch noch 53% (sic!) behaupten,
für sie sei es vollkommen irrelevant, ob da Frauen
oder Männer gegenüber säßen, wenn
also nur noch für 35% von 88 diese Differenz existiert?
– der Rest hat noch nie gegen eine Frau gespielt.
Nun, da heißt es zum einen Augen zu und durch:
die Wissenschaft findet immer was und zum anderen hat
man für diese Fälle die Psychoanalyse und
das Unbewusste erfunden, denn die Männer, die kein
Problem mit Frauen haben, die haben gerade eines, die
verdrängen und verschieben fleißig, ersetzen
und tabuisieren, und - aber das ist schon meine freie
Interpretation - onanieren bestimmt auch exzessiv, um
Penisneid, Kastrationsangst, Ödipuskomplex oder
sonst was zu bewältigen.
Den Alessandriner Schachfreunden, 40
an der Zahl, legte man ein Positionsdiagramm vor.
Weiß spielte gerade 10.Lg5 worauf
Schwarz den Springer nach a4 bringt, ein Zug, so wurden
die Probanden unterrichtet, der von Fachleuten als "genial"
bezeichnet wurde. Die Befragten sollten nun bestimmen,
welchem Spieler sie diesen Zug zurechnen: Benkö,
Kasparow, Fischer, Judith Polgar oder Keres [3].
Selbiges galt für folgendes Diagramm:
Weiß hatte soeben Sd2? gespielt
und Remis angeboten, was Schwarz, trotz Gewinnstellung,
angenommen hatte (Sxf2!! hätte gewonnen, da der
König wegen Dxe3 nicht wiedernehmen kann). Hier
sollten die Probanden zum einen den Spieler benennen,
der das Remis anbot und den, welcher es annahm. Das
Verfahren ist an sich interessant und u.U. aussagekräftig,
wird aber leider erneut durch unerklärlichen Dilettantismus
gestört. Zum einen werden nicht Züge zugeordnet,
sondern Adjektive ("genial") und da Fischer
und Kasparow immer wieder mit diesen betitelt werden,
ist das suggestive Ergebnis kaum überraschend (auf
beide gehen 72% und nur 1% - bei 40 Teilnehmern!! -
für Polgar), zum anderen werden Spiele verschiedener
Epochen miteinander kombiniert, die gar nicht gegeneinander
gespielt haben können, so dass eine statistische
Verschiebung unausweichlich ist und schließlich
sind die Partien Benkös etwa weit weniger im öffentlichen
Bewusstsein, als die der beiden "Genies".
Tatsächlich brachte das zweite Experiment keinerlei
verwertbare Daten. Das hindert die Autoren nicht daran,
zur Schlussfolgerung zu gelangen: "dass die Schachspieler
den männlichen und weiblichen Großmeistern
verschiedene Qualitäten zuordnen" (64). Aber
selbst solche Generalisierungen sind unsinnig, auch
wenn sie de facto nicht falsch sein müssen, denn
weder repräsentiert Judith Polgar die Schach spielende
Frau schlechthin, noch waren die Analysanden dazu angehalten,
sie als Frau zu bewerten, sondern lediglich als Schachspieler(in).
Was schließlich stümperhafte Untersuchungen
nicht zu lösen vermochten, holen sich die beiden
Professoren aus der psychoanalytischen und belletristischen
Literatur.
Quantitativ gesehen nimmt der Abschnitt,
der sich mit sozialen und affektiven Symbolisationen
befasst, den größten Teil in Anspruch.
"Der Sachverhalt, dass viele Menschen
dem Schach sehr viel Aufmerksamkeit und Energie widmen,
kann nicht ohne Interesse bleiben. Man muss sich also
fragen, was das Spiel bedeutet und welche metaphorischen
Werte mit ihm verbunden werden" (73). Das ist in
der Tat eine der faszinierendsten und philosophisch
interessantesten Fragen, aber leider lässt sie
sich a priori nicht durch Umfrageergebnisse beantworten,
sondern bedarf eines abstrahierenden Geistes und selbst,
wenn ein solcher unter den Befragten gewesen wäre,
er hätte innerhalb des Frage-Antwort-Schemas gar
keine Möglichkeit, sich auszusprechen. So bleiben
es wiederum nur Andeutungen und Winke, vage Ideen, die
maximal späteren Untersuchungen als Anhaltspunkte
dienen könnten. Erneut weigerte sich ein Drittel
der Befragten, überhaupt eine symbolische Bedeutung
im Schach ausmachen zu wollen, doch was die übrigen
an assoziativem Reichtum zutage bringen, ist bemerkenswert.
Für 60% ist es die Metapher des Lebens und nur
10 % - das ist überraschend - sehen eine Verbindung
mit dem in der Literatur allzu oft bemühten Krieg.
Die restlichen 50% nehmen in ihm u.a. die Unbarmherzigkeit,
den Fleiß, das Ringen zwischen Passion und Rationalität,
die Moral, die hierarchische Gesellschaft, Vorteil und
Grenzen der Gesetze, die Unvorhersehbarkeit, die Dominanz
der Schlauheit, das Leiden usw. wahr. (74f.); jeder
für sich vertiefungswürdig. Die Autoren schließen
etwas voreilig daraus, dass das Spiel nicht mehr so
sehr den traditionellen Krieg repräsentiere (78),
als ob man die Vielfalt nicht auch viel einfacher mit
der Beliebigkeit derartiger Analogien interpretieren
könnte. Zudem gibt es eine weitere entscheidende
Differenz: "Das Schach ist ein Krieg
unter Gleichen, während dies im realen Leben fast
nie der Fall ist. Schließlich, im Krieg hat das
Element des Glücks Bedeutung; im Schach
dagegen kann man Glück haben wenn der
Gegner fehlt, aber man kann nicht unglücklich
sein (wenn wir verlieren, so deutet das auf das
Fehlen von Fähigkeit oder Aufmerksamkeit hin)"
(79).
Die metaphorische Aufgeladenheit müsste
sich auch anhand der einzelnen Figuren nachweisen lassen,
worauf bereits die psychoanalytische Literatur, insbesondere
Fine, hinwies, die in König und Dame Vater und
Mutter sehen wollte und in der Partie das ödipale
Drama durchzuspielen glaubte. Aber auch Carroll, Bontempelli
und andere Literaten, verliehen den Holzfiguren menschliche
Züge und luden sie damit affektiv auf. Akribisch
wird nun jede einzelne Figur untersucht. Es genügt,
dies anhand einer nachzuvollziehen, um zu begreifen,
worum es den Autoren geht.
Welche der folgenden Eigenschaften verbinden
Sie mit dem Bauern, wurden die Personen gefragt. (254)
Heraus kam folgendes:
Das eigentliche Problem beginnt mit der
Interpretation: was soll und kann man daraus ableiten?
Für Festini und Liccione stand wohl schon vorher
fest: "Der Schachspieler projiziert auf den Bauern
die eigenen Fehler und Grenzen: deshalb liebt er ihn
zum Teil, zum Teil aber verachtet er ihn. Kurz; der
Bauer erweckt ambivalente Gefühle..." (102)
und Ambivalenz ist immer leicht zu konstatieren, wenn
man nichts zu sagen hat. "Zuallererst hat der Bauer
eine stark anthropomorphe Bedeutung, vergleichbar der
Dame und dies wird nur noch vom König überboten,
der menschlichsten Figur: 60% der Befragten identifizieren
ihn mit einer Person" (102). Dabei bedarf es doch
nur ein wenig gemeinen Menschenverstandes, um auch diese
Schlussfolgerung zu hinterfragen, denn sobald man sich
klar macht, dass zwischen Ding und Namen des Dings eine
wesentliche Differenz besteht, stellt sich die Frage
so: Wird hier die Figur oder deren Namen Assoziationen
ausgesetzt? Wie unterschiedlich die Konnotationen ausfallen,
zeigt doch schon ein Blick auf die verschiedenen Sprachen:
der Bauer im Deutschen erweckt ganz andere Phantasien
als der "peon" (Hilfsarbeiter) im Spanischen,
der "pedone" (Fußgänger, auch im
Sinne Infanterist) im Italienischen oder das "bu"
(Kind) im Tibetanischen (vgl. 104). Wenn das Kind zur
Dame wird, so wird es erwachsen, geht der Infanterist
auf die gegnerische Grundreihe, wird er zum General
usw. In vielen Sprachen gibt es dann ein identifikatorisches
Transversionsproblem, insofern der männliche Bauer
zur weiblichen Figur wird - ein gefundenes Fressen für
heißgelaufene Psychoanalytiker und wenn dann,
wie im Italienischen eine kannibalische Implikation
auftaucht, weil die Figur dort verbal gegessen wird
statt geschlagen, dann kann kein Freudjünger ungerührt
bleiben. Tatsächlich erhitzen sich die Autoren,
nach Dextreit und Engel [4], am Problem des Partnertausches
(Damenwechsel), der Mono- und Polygamie. Da fällt
mir nur die Partie Aljechin gegen Grigoriev ein und
ich frage mich, was sich die beiden bei dieser schlüpfrigen
Stellung wohl gedacht haben...!?
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Aljechin
gegen Grigoriev
24.Th6 Dxf1 25.Db4+ Db5 26.Dd8+ Ka6 27.Dea3+ Dca4
28.Daxa4 Dxa4 29.Dxa4
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Was wäre, wenn die Figuren ganz
einfach Eigennamen hätten oder nur mit Zahlen,
Buchstaben etc. bezeichnet wären? Und liegt es
nicht in der Sache selbst, dass Springer/Pferd und Turm
weniger leicht anthropomorph gelesen werden können
- wenngleich der Turm ein ideales Phallussymbol abgibt?
Man ist bei derartigen Überinterpretationen, die
im Buch weitere 50 Seiten einnehmen, geneigt, gütig
zu lächeln, aber wenn es im wissenschaftlichen
Gestus daherkommt, dann wird die Sache ernst. Damit
soll nicht in Abrede gestellt werden, dass solche Assoziationen
nicht existieren würden oder sie sinnlos wären;
im Gegenteil: sie zu untersuchen ist unbedingt vielversprechend,
nur muss der rechte methodische Rahmen abgesteckt sein
und das wissenschaftliche Personal muss lernen, die
eigenen Ideen und Vorstellungen außen vor zu lassen,
statt sie in die Versuchsanordnung und Auswertung versteckt
einzubringen. Wenn das systemlogisch nicht geht, dann
geht es eben nicht.
Man kommt zu einem widersprüchlichen Schluss, will
man das Buch in wenigen Worten charakterisieren: es
ist ein Meilenstein in der schachpsychologischen Literatur!
Dies im Hinterkopf macht deutlich, wie weit der Weg
noch ist dem Gegenstand gerecht zu werden und welch
große Spielräume noch vorhanden sind.
"Die Zeit bescherte uns viele Genies", sagte
der geniale Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec, "Hoffen
wir, es sind ein paar Begabte darunter."
(Wally Festini/Davide Liccione: Psicologia
degli scacchi. Aspetti cognitivi, immaginativi e affettivi
del gioco. Rusconi. Milano 1998. 269 Seiten)
--- Jörg Seidel, 17.04.2002 ---
[1]
Vgl. Psychologie im Kinderschach.
[2] Vgl. hierzu die ausführlichen
Erlebnisberichte in: Andrea Hafenstein/Jörg Seidel:
Schach dem Tumor
[3] der Zug entstammt der
Partie Byrne - Fischer, New York 1956
[4] J. Dextreit/N. Engel:
Jeux déchecs et sciences humaines. Paris
1984
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