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Schattenboxen - Das
Schach und die Promis
(unter besonderer Berücksichtigung
der Boxer)
- Teil 2 -
Der gemeine Schachspieler leidet unter
einem noch gemeineren Klischee: Zwar gilt er gelegentlich
als klug und gescheit – vor allem in eigenen Kreisen
-, aber darüber hinaus wird er zumeist als engstirnig,
täppisch, verträumt, linkisch, zänkisch,
realitätsfremd, sprich lebens(welt)untauglich dargestellt
und an diesem Eindruck ändert auch nichts, wenn
man bedenkt, dass all diese liebenswerten Eigenschaften
ebenso den wirklichen Denkern, den Philosophen,
nachgesagt werden. Zudem assoziiert man wohl kaum physische
Attraktivität mit ihm, dem homo scacchorum vulgaris.
Weder gilt er als schön oder anziehend noch als
sportlich oder fit, sämtlich Zentralwerte der Medienkultur.
Letzteres aus den einfachen Gründen, weil Schach
in den Augen der durchschnittlichen Öffentlichkeit
eben kein Sport ist und weil der trotzdem gute
Ruf des Spiels nicht zwangsläufig auf die Spieler
abfärbt. Und wenn man einen beliebigen Turniersaal
betritt, dann werden diese Vorurteile von schwitzenden,
ächzenden, vor sich hinbrabbelnden, dickbäuchigen
und oftmals schlecht gekleideten Männern kaum widerlegt.
Der durchschnittliche Turniersaal gleicht einer Vollversammlung
der PDZ, der Partei der Zukurzgekommenen. Und wenn man
die gewöhnlichen Schachperiodika wälzt, dann
werden die Vorurteile von vielen nickeligen Streitereien
auf allen Ebenen über belanglose Nebensächlichkeiten,
auch nicht widerlegt, weder vom Weltverband, noch von
den gegenseitigen Unterstellungen der Spitzenspieler
oder den "Wissenschaftlern", den Hobbyhistorikern
und Analysanten, und erst recht nicht von den Streitereien
um das Ei des Kolumbus in den Leserbriefen der "Euro
Rochade".
Das gemeine Klischee des Schachspielers
besteht nicht zu Unrecht und färbt unweigerlich
auf den Ruf des Spiels selbst ab. Nur so herum funktioniert
das! Mehr als alle aufwendigen Versuche, das Schach
argumentativ zu veredeln, es als menschenbildnerischen
Erziehungsfaktor oder wahren Sport durchzuboxen, hülfe
der zivilisierte Umgang der Spieler untereinander, auf
das man von den positiven Wirkungen nicht nur hört,
sondern diese auch erfährt.
Man kann es auch anders sagen: Wer schön,
reich und erfolgreich ist, spielt, in der Regel, kein
Schach. Dies erklärt sich aus dem einfachen, vermutlich
im Menschenwesen verankerten Verlangen, sich mit den
Anderen im Wettbewerb zu messen, um das Gefühl
persönlicher Überlegenheit zu erfahren. Wem
dies auf den primär gesellschaftsrelevanten Gebieten
nicht gelingt, tja, der spielt eben Schach. Alfred Adler
hätte im Spielsaal eine ideale Anordnung vorgefunden,
seine Grundthese experimentell zu bestätigen. Kritischen
Beobachtern der Szene ist dies seit je kein Geheimnis:
"Und diese Umstände erklären es auch,
warum auf einen aufmerksamen Beschauer ein von gewohnheitsmäßigen
Schachspielern erfüllter Saal einen eigentümlichen
Eindruck ausübt. Frische, energische, tatensprühende
Menschen sind kaum am Schachtisch zu finden, dagegen
aber ein großer Prozentsatz durch körperliche
Fehler am wirklichen Lebensgenuß verhinderter.
Dann Menschen, denen ihr Beruf und sonstige Hindernisse
ein Ausleben, zu dem sie vermutlich sich hingezogen
fühlen, verwehren, und viel Alter und Gebrechlichkeit"
[1]. Ob Schach als Ursache oder als Wirkung fungiert, kann
in diesem Zusammenhang nicht erläutert werden.
Die geringen Zugangsbedingungen jedenfalls – das
ist ein enormer Vorteil im demokratischen Sinne und
Nachteil im elitären – schließen vorab
fast niemanden aus.
Das erklärt auch, weshalb um Sondererscheinungen,
wie etwa die "Schönheit" Kosteniuk, solch
ein Rummel gemacht wird. In ihnen, den Sondererscheinungen,
versucht die Schachwelt ihr eigenes Image zu widerlegen
und erreicht doch nur – eben weil es sich um Ausnahmen
handelt – die Bestätigung derselben. So kommt
es, dass unüberlegte Dummheiten [2] einer siebzehnjährigen
Göre unbemerkt die Medien passieren, weil alles
auf Beauty, aufs für zugeknöpfte Schachverhältnisse
ungewöhnlich attraktive Dekolleté oder auf
den von zärtlicher Hand umspielten Phallus-Turm
starrt, statt auf den Sinn der Worte zu achten.
[Quelle: http://www.kosteniuk.com/cgi/sphotos/eight.cgi?gal=3&opt=img&id=stud001]
Eine andere und weitaus interessantere
Ausnahme stellen die Berühmtheiten, die "Promis"
dar. Zunehmend kommt es unter ihnen in Mode, sich, trotzdem
man schön, reich und erfolgreich ist oder sich
dafür hält, als Schachspieler zu outen, so
wie es en vogue ist, sich als Gay oder Jungfrau oder
Brustkrebsoperierte öffentlich zu bekennen. Da
das gemeine Klischee von vornherein nicht greift, lässt
sich dieses Schachinteresse von der Sonnenseite des
Vorurteils bestrahlen(wir wiederholen): Klugheit, Intelligenz,
Überlegtheit, Cleverness und dergleichen. Gewöhnlich
versucht man sich mit demjenigen zu versorgen, wovon
man noch nicht ausreichend hat. Ein Begehren signalisiert
immer Defizite. Man kann die Bedeutung dieser scheinbar
banalen Aussage kaum unterschätzen, denn ihrer
inneren Logik folgt die verblüffende Erkenntnis,
dass Bekanntheit heutzutage eben nicht mehr mit intellektuellen
Leistungen oder auch nur genuinen Fertigkeiten direkt
proportional zusammenhängt. Wir verehren Nebensächlichkeiten,
Dinge, für die oftmals niemand kann, und schämen
uns für deren Abwesenheit. Dabei ist der Realbesitz
zweitrangig, man muss vielmehr bei den anderen als etwas
gelten. Als eine Schauspielerin den Regisseur fragte,
was sie denn tun solle, antwortete er: "Halts Maul
und sei schön!".
Einigen Stars und Sternchen scheint das
nun nicht mehr zu genügen. Ob man das Verlangen,
auch auf geistigem Gebiet zu leuchten und nicht nur
im Fremdlicht des Spotlights, schon als Anfall von höherer
Intelligenz zu werten habe, sei dahingestellt –
die regelrechte Wut der Schönen und Reichen, auch
"ein Buch zu schreiben", mag dem eher widersprechen
-, aber dass ausgerechnet das Schachspiel immer populär-exklusiver
wird, kann kein Zufall sein.
Besonders unter Sportlerstars scheint
das Schachfieber zu grassieren und unter diesen wiederum
besonders bei den Boxern und Fußballern. Kein
Wunder, schließlich ist der blöde Athlet
seit Menschengedenken eine feste Größe. Schon
die Schlauesten unter den alten Griechen, bei denen
ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper
wohnen konnte - Mens sana in corpore sano -, machten
den Typus lächerlich, wenn es umgekehrt eben nicht
so klappte. Der Kyniker Diogenes: "Auf die Frage,
warum die Athleten stumpfsinnig seien, antwortete er:
'Weil sie aus Schweine- und Ochsenfleisch aufgebaut
sind" [3]. Um wie viel treffender ist dieses Apercu
bei Athleten, die aus Schweine- und Ochsenfleischwachstumshormonen
aufgebaut sind.
Noch heute leiden besonders die Muskelprotze,
die Boxer vor allen, die sich systematisch die Rübe
einhauen, die bewusst Risiken für Hirn und Geisteskraft
in Kauf nehmen, darunter. Filmhelden wie Rocky, Ringhelden
wie Tyson, werden die Öffentlichkeit nie vom Gegenteil
überzeugen und selbst ein Mohammed Ali ist erst
als parkinsongeschüttelter Vollinvalide zum weisen
Manne ernannt worden. Es kann daher nicht verwundern,
wenn einige Faustkämpfer sich als Gentleman (Henry
Maske), als Promovierte (Gebrüder Klitschko) oder
als Ausgeglichenheitsguru (Lennox Lewis) inszenieren.
Freilich, als Maske gegen Graciano Rocchigiani taumelte
und trotzdem siegte, wenn die Klitschkos gleich reihenweise
blutige Nasen und schäumende Münder schmieden
oder als Lewis mit einem arroganten Lächeln auf
den Lippen gegen Hasim Rahmann zu Boden sank, das sah
nicht gentlemanlike, studiert oder cool aus.
Nun treffen sie also aufeinander, die
Titanen des Schachbretts, Lewis und Klitschko, vorausgesetzt,
dem Coach des Briten wird es gelingen, ihm noch einmal
das ach so geliebte Schachbrett zu entreißen.
So zumindest lautet die gern kolportierte Legende [4].
Und was die Gebrüder Klitschko gegen Elisabeth
Pähtz zusammenschoben, darf, bei allem Respekt,
nicht außerhalb der schachlichen Kritik stehen.
Natürlich kann man nichts dagegen sagen, dass die
Hünen dem "königlichen Spiel" frönen,
im Gegenteil: weiter so! - nur wird es delikat, wenn
dies öffentlich geschieht. Insofern scheint Lewis
der cleverere zu sein, denn, soweit zu sehen ist, verzichtet
er darauf, seine Partien der Allgemeinheit zu zeigen
[5]. Sicher mit gutem Grund. Der stille Rätselhafte
erscheint stets attrak-tiefer als die profane Entzauberung
des Schaumschlägers.
Dass die Herren Muskelmänner auf
schmalem Grade wandeln, zeigt das Beispiel Halil
Mutlu, seines Zeichens türkischer Gewichtheber
der 56-kg-Klasse, mehrfacher Olympiasieger (1996 und
2000), Welt- und Europameister, Weltrekordhalter usw.
Wie alle Kameraden seines Teams "ist er vollkommen
besessen vom Schach und spielt sogar oft während
der Trainingspausen" [6], wie der spontane Schnappschuss
- erschienen im "Guardian" - eindrucksvoll
belegt:
Dies ist die Stellung:
Auch wenn Fritz die Situation mit +10
für Schwarz einschätzt, scheint sie für
den Kraftzwerg und Denkriesen noch einiges herzugeben.
Mutlu (Schwarz) hat sich ohne Zweifel eine starke Position
erspielt. Doch der zu erwartende Zug des Weißen
mag die eine oder andere Überraschung mit sich
bringen. Kd2 scheint einleuchtend, aber Sxd8 gewinnt
immerhin die gegnerische Dame und Lg6+, gefolgt von
Lb4+ ist Fun pur (zweimal Schach!). Antony Mann gibt
– allerdings für Schwarz(!), nichts ist unmöglich
- entweder cxd1 oder fxe1 an, mit unklarer Stellung,
aber doch Vorteil Schwarz. Hochinteressant wäre
die Partienotation, allein um zu sehen, weshalb Schwarz
aus wahrscheinlich taktischen Gründen die bereits
erfolgte Bauernumwandlung nur für einen Läufer
nutzte. Lange Rede kurzer Sinn: Der erhoffte Intelligenzgewinn
wird durch die aufgedeckten Umstände locker wieder
eingeholt und schlägt ins Negative um. Das umschreibt
das prinzipielle Risiko des fahrlässigen Umgangs
mit dem Schach durch Prominente.
Lennox Lewis hingegen ist ein
wahrer Meister der Selbstimagepflege. Wo immer er auftritt
gibt er überzeugend die Rolle von Schwiegermamas
Liebling: sanft, höflich, hilfsbereit. Hier z.B.
ließ er sich bei einem Schulbesuch ablichten und
zeigte einem 13-jährigen Schüler ein paar
Züge seines Könnens und lieben Charakters [7].
[Quelle: http://news.bbc.co.uk/sport1/hi/boxing/specials/lewis_v_tyson_fight/2028170.stm]
Das Vertrauen der Engländer in ihren
sanften Riesen ist so groß, dass selbst ein vielbeachteter
Fernsehspot zur Verhinderung von häuslicher Gewalt
(neben notorischen Triebwohltätern wie Bob Geldof
oder Alan Shearer) unter seinem Namen läuft. Umso
schwieriger ist es, den unerklärlichen Aussetzer
während der Tyson-Lewis Promotion zu erklären,
bei der ganz eindeutig der gute Lennox zuerst zuschlug,
glücklicherweise aber dann noch vom "Bösen
Mike" ins Bein gebissen wurde, alle Aufmerksamkeit
darauf lenkend.
[Quelle: http://news.bbc.co.uk/sport1/hi/boxing/specials/lewis_v_tyson_fight/2169825.stm]
Wenige Tage nach diesem Vorfall erschien
ein aufschlussreicher Artikel im "Sunday Telegraph",
von keinem geringeren verfasst, als Dominic Lawson,
Freund Nigel Shorts und Autor des umstrittenen Buches
"The Inner Game", Herausgeber des "Spectator"
und, so Raymond Keene, "clearly a very influential
person in British political life" [8]. Aufschlussreich
ist vor allem der Einblick in die nationale Mentalität
der Engländer [9], da der Zeitpunkt von Lawsons Schachpartie
mit Lennox – denn darum ging es - alles andere
als zufällig zu sein scheint. Da wird ein gefallener
Engel wieder aufgerichtet. Alles an Lawsons Beschreibung
deutet darauf hin, die sanftmütigen Seiten des
Boxerstars herauszukehren und was eignet sich da besser
– neben der sanften Hand, den geschmeidigen und
lautlosen Bewegungen, der vertrauenseinflößenden
Erscheinung, dem Lachen, dem Sinn für Humor und
all dem Kram – als eine friedliche Partie Schach
im trauten Heime? Hätte jemand erwartet, ein negatives
oder auch nur zweifelndes Urteil über Lennox
Schachkünste zu hören, selbst von einem Spieler,
der über mehr als 2000 ELO verfügt? Selbstverständlich
nicht, selbstverständlich wird dem gemütlichen
Koloss intellektuelle Größe, auch wenn er
beide Partien verliert, schachliches Talent, Angriffsgeist
und sogar großmeisterliches Eröffnungswissen
bescheinigt und da das noch nicht genügt das kundige
Urteil St. Nigels eingeholt: "He's obviously
not too bad. He clearly has the right ideas, and played
a lot of very logical moves. That's a high compliment
from Short" [10]. (Lawson sollte seinen Freund diesbezüglich
besser kennen. [11])
Schließlich darf Lennox auch noch
ein wenig über das Schach sinnieren: "It's
like boxing: there's a strategy. You have to decide
what move to use, or what combination of moves. I'm
thinking less when I'm boxing, because the reaction
time is a lot quicker, but some people call me the chess
boxer because they say I think too much when I'm in
the ring. I am taking my time about it and they are
not seeing the action they want. Well, that is because
I am thinking of the proper strategy to defeat this
man. I am thinking and boxing at the same time. Some
boxers just go in there and just throw punches and hope
to win."
Was
aber am meisten überrascht, ist folgende Aussage:
"After the second game is over I ask Lennox how
often he plays chess. When I am in training camp?
Oh, all day, sometimes. Well, certainly about four hours
a day." Vier Stunden am Tag!! Wow! Wo nimmt
ein Mann, der pro Tag, so will man annehmen, sechs bis
acht Stunden seinen Körper schindet, der, so weiß
man, wenn er das nicht tut, unzählige "Gesellschaftstermine
wahrzunehmen hat, der auf tausend Hochzeiten tanzt,
die Welt umreist, Interviews gibt, Besuche absolviert,
karitativ tätig ist, wohl auch so was wie eine
Familie hat, woher nimmt der die Zeit, täglich
– certainly - vier Stunden Schach zu trainieren?
Und wieso hat er sich dann noch keinen Namen in der
Schachszene erobert, denn bei normaler Intelligenz und
Begabung sollten vier Stunden tägliches Training
bald zu spielerischen Erfolgen führen, die bei
einer öffentlichen Persönlichkeit kaum unbeachtet
bleiben dürften. Immerhin hat kein geringerer als
Karpow einst verkündet, dass er nicht mehr als
drei Stunden täglich sinnvoll trainieren könne
[12]. Es ist die totale Fokussierung auf das Boxen, die
täglichen acht Stunden gedankenlosen Knüppelns,
die im "image making" nach einem scheinbaren
Gegenpol verlangen, eben nach vier Stunden intelligenter
Tätigkeit. Umgekehrt ist z.B. Kasparow bis zur
Lächerlichkeit auf seinen durchtrainierten Körper
stolz.
Tatsächlich sind sich Schach und
Boxen näher, als der erste Eindruck glauben macht.
Analogien, wie die von Lennox Lewis, reichen nicht aus,
die Nähe zu erklären. In beiden gibt es eine
Strategie, richtig, beide werden oft taktisch entschieden
– wer wüsste das besser als Lewis, dessen
Strategie gegen Rahman perfekt aufzugehen schien, bis
der einzige taktische Einschlag, die "Partie"
beendete? -, in beiden gibt es Kombinationen, knock-
und blackouts, beide basieren auf primärer Dualität,
beide stellen einen Kampf dar, in dem zwei Persönlichkeiten
aufeinander treffen, zwei Stile, vielleicht sogar Lebensauffassungen
oder Philosophien, aber all dies trifft auf so viele
Bereiche zu und entbehrt daher wirklicher Überzeugungskraft.
Fakt ist, dass es sich bei beiden Sportarten –
für beide ist der Begriff des Sports daher problematisch
– um die metaphysischsten Varianten des breiten
Sportspektrums handelt, sie stellen Extreme dar und
sind deshalb von besonderem philosophischem Interesse.
Ins Unernste und idealtypisch Übertriebene gewendet
könnte man sagen: während hier zwei Hohlköpfe
aufeinander treffen, sind es dort zwei Hohlkörper.
Deshalb sollte man von einem Boxer genauso
viel schachliche Glanzleistung erwarten, wie von einem
Schachspieler boxerische. Genauso aber wie ich einen
"typischen" Schachspieler im Boxring nur lächerlich
und lachhaft finden kann – die frühen Slapstic-Einlagen
des Stummfilms haben ein ganzes Arsenal urkomischer
Szenen dazu produziert, nicht zuletzt Charlie Chaplin
und Buster Keaton -, genauso darf ich von einem Boxer
erwarten, dass er zumindest ein Grundverständnis
des Schachs besitzt, wenn er sich öffentlich damit
hervortut
und wenn er es nicht besitzt, dann darf
auch gelacht werden.
Dieses Grundverständnis haben die
Gebrüder Klitschko leider vermissen lassen, als
sie sich in Leipzig mit Elisabeth Pähtz, blindspielend,
zu messen wagten. Aber das war alles doch nur ein Spass?
Ja, eben!
[Quelle: http://www.chess-international.de/ticker/leipzig/leipzig.htm]
Elisabeth Pähtz
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Gebrüder Klitschko
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1.e4
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b6?!
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Nicht dass man das, die "modern defence",
nicht spielen könnte, aber für blutige Amateure
wäre ein ordinäres e5 oder c5, e6, d6 wohl
angebrachter. Der Verlauf der Partie zeigt, dass die
Eröffnungsidee dieses Zuges nicht bekannt war.
Lb7 führte in bekannte Eröffnungsbahnen,
wenn auch schwierige.
ein guter Zug in schlechter Stellung
Wer kann diesen Zug erklären? Entweder
nur Kasparow oder der Mann, der sich für Kasparow
hält.
Verleiht zumindest die vorübergehende
Illusion einer Figurenentwicklung.
Damit ist die Partie entschieden! Man
kann diesen Zug mit Lewis' Vernachlässigung der
Deckung vergleichen, auch wenn er hier nicht zum sofortigen
K.o. führt, sondern den Gegner noch ein bisschen
taumeln lässt.
d5 hätte wenigstens noch
etwas Gegenspiel ermöglicht und sich ins Unabänderliche
mit fliegenden Fahnen begeben. Der Textzug sichert Weiß
zu allem Unglück Raumvorteil und die bessere Bauernstruktur
- als ob derartige Feinheiten eine Rolle spielen würden.
Da kann man nicht meckern! Trotzdem
überraschend, denn dem Gesetz der Serie entsprechend
hätten die Herren Patzer mit exf6 es dem Gegner
noch mehr erleichtern können.
Ist nur noch durch Lh6???
zu überbieten.
Nach der alten russischen
Bauernregel: Hast du zwei Figuren weniger, tausche die
Damen! - die zwei Figuren weniger bleiben dir schließlich.
Von nun an beginnt Elisabeth
gegen den Strich zu spielen, spätestens hier hat
sie begriffen, dass die Flachnasen auf alles reinfallen!
Was will man machen? Ob
die beiden hier schon ahnten, dass sie verlieren könnten?
Sieht jedenfalls verdammt nach verzweifeltem Befreiungsschlag
aus: Raus die Fäuste, irgendeinen wird's schon
treffen und der Herr die seinen erkennen. Subtilere
Züge wie 11
Db7 oder h5 oder e6 oder d6 waren
schwer zu finden.
Findet ein Blinder mit
Krückstock! Wahrscheinlich wäre selbst hier,
in der fifty-fifty-Situation das Nehmen mit dem Bauern
stärker (bringt Tb8 "ins Spiel", wenn
man so sagen kann), aber das sind Haarspaltereien.
Ein teuflischer Plan,
den sie nie und nimmer gegen einen Schachspieler
probiert hätte. Der Zweck heiligt die Mittel
Quod erat demonstrandum!
Zwei Ausrufezeichen für
den besten schwarzen Zug des Spiels, da der einzig korrekte.
Ein Fragezeichen, weil die Korrektheit Zufall war, wie
der weitere Verlauf zeigen wird.
Wer hier nichts zu lachen
hat, der lacht nimmermehr! Elisabeth Pähtz wählt
einen klar schwächeren Zug, weil sie weiß,
was kommen muss und weil alle besseren Züge das
Elend nur verlängert hätten. Des Spaßes
halber, verdient der Zug zwei Ausrufezeichen. Die Kleine
hat Humor!!
und wird kongenial
belohnt.
Wer nun noch glaubt, die
Klitschkos wüssten Schach zu spielen, der glaubt
auch an den Weihnachtsmann.
--- Jörg Seidel, 20.12.2002 ---
Fortsetzung
folgt ...
Lesen Sie auch den 1. Teil dieser
Reihe: "Paläoanthropologische
Untersuchungen oder: Boris Becker und das Bum-Bum-Schach"
[1]
Wilhelm Junk: Philosophie des Schachs. Leipzig 1918.
S. 104
[2] exemplarisch: http://www.welt.de/daten/2002/11/07/1107sp366860.htx
[3] Diogenes Laertius: Leben
und Meinungen berühmter Philosophen. Buch VI/49
[4] "I honestly, don't
like him playing chess,'' moaned Steward (the manager)
as he looked out from the penthouse of the Mandalay
Bay resort. ''When we get close to fight I try to hide
it. I mean I see him sitting there for 10 minutes thinking
four moves ahead before he makes one and he actually
does the same thing in the ring."
[5] allerdings soll vor
einigen Jahren ein Stellungsdiagramm im "British
Chess Monthly" erschienen sein; nur, dass es eine
solche Zeitschrift m.E. gar nicht gibt, lediglich das
"British Chess Magazine" vgl. Dominic Lawson:
The day I squared up to Lennox Lewis in: Sunday Telegraph
3.2.2202
[6] Antony Mann: Memoirs
of a Mediocre Chess Player. KingPin 33, S. 35f. - Ich
beziehe mich nachfolgend auf diesen Artikel
[7] vgl. auch die brandaktuelle
Boxanthologie: Boxing. Unseen Archives. Parragon. Bath
2002; S. 377, wo selbiges Photo kommentiert wird: "Lennox
relaxes by playing chess with local school children
in Memphis". Lennox relaxes also vor dem Kampf
gegen "Iron Mike.
[8] Cathy Forbes: Meet the
masters. Brighton 1994. S. 13
[9] vgl. zur Thematik: Sieg
und Niederlage auf Englisch -victory and defeat in German.
http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Polemik/england.php
[10] Dominic Lawson: The
day I squared up to Lennox Lewis in: Sunday Telegraph
3.2.2202
Although Lewis is a very big man even by the standards
of heavyweight boxers - 6ft 5in, 17st 8lb, and arms
that span 83 inches - he moves with astonishing lightness.
There is absolutely no sense of physical menace, and
his handshake is feather-light
In our first game
Lennox, playing with the white pieces, loses speedily:
he goes for a quick knock-out against my Sicilian defence
and is caught off balance by a sneaky counterpunch.
"Let's have a rematch," he says, without a
trace of ill-feeling. Of course the champion has a right
to a return match, I reply. In the second game, I play
the Spanish opening, sometimes known as the Spanish
torture, because of the way in which it slowly crushes
the life out of the opponent.
Lennox, however, plays a very sharp response, currently
fashionable in Grandmaster chess, and it's all I can
do to keep control of the position. Eventually I do
manage to grind him down, but not before almost falling
into a series of devilish traps set by Lennox. ... But
suppose, I suggested to Lennox, that he never entered
the ring against Tyson. What would happen, instead,
if the two of them settled their differences over the
chess board? Lewis's answer, between great gulps of
laughter, was instantaneous. "Oh, I would definitely
win. He would eat the pieces and be disqualified."
[11] Was Nigel Short unter
einem guten Spieler zu verstehen scheint und wie weit
er sich von der Realität entfernt hat – woher
kenne ich das nur? -, offenbart folgende Meldung aus
"Chess", November 2002, S. 49: "Nigel
Short was annotating the game Z. Bratanov – M.
Gurevich in his increasingly eccentric Sunday Telegraph
column. Of Bratanovs 46th move he wrote: It
was better to wait with the bishop on f3, but weak players
are not good at that sort of thing. And just how
weak is Mr Bratanov? His rating at the time was 2438.
[12] Anatoli Karpow: Wie
ich kämpfe und siege. Heidelberg 1978. S. 12
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