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Schachbotschafter III:
Marcel Duchamp
Warum versucht
man überhaupt nach all den großen Künstlern, et-was
noch einmal zu machen? Nur, weil von Generation zu Generati-on
durch das, was die großen Künstler gemacht haben, sich
die inne-ren Einstellungen verändern.
Francis Bacon [1]
Im dritten Band schließlich greift Ferruccio Pezzuto,
der Herhausgeber der Reihe, Historiker und journalistischer
Mitarbeiter der großen italienischen Tageszeitung
"La Stampa", selbst zur Feder und widmet sich
einem äußerst interessanten Thema: Marcel
Duchamp. In der Tat, Duchamp verdient mehr als ein schachhistorisches
Interesse, denn was er, direkt und künstlerisch
vermittelt, mitzuteilen hat, ist viel mehr wert als
lediglich in die Ahnengalerie bekannter Persönlichkeiten,
die sich dem Schach verschrieben und vielleicht noch
ein lockeres Sprüchlein für die Anekdotenkiste
parat hielten, aufgenommen zu werden; seine Ansichten
– Pezzuto macht das auf spannende und leider viel
zu kurze Weise klar – sind originäre Beiträge
zur schachphilosophischen, speziell zur schachästhetischen
Diskussion, die im Übrigen, wenn sie korrekt sind,
alle Schachspieler direkt betrifft, seien sie nun Profis
oder Patzer. Sie verdienen weit mehr als ein schmales
Bändchen der "Messaggerie Scacchistiche"
je wird bieten können [2],
aber bereits dieser überblicksartige Beitrag des
Italieners ist lobenswert, nicht zuletzt, weil Pezzuto
den Mut aufbringt, zumindest hier und da, eigene Abstraktionen
und Ableitung zu wagen, die mitunter zu global, zu allgemein
ausfallen, aber schon mal auf eine notwendige Argumentationsrichtung
weisen. Und natürlich ist das Bändchen informativ,
wenn auch in indirekter Abhängigkeit vom Informationsstand
des Lesers.
Man Ray und Marcel Duchamp bei einer Schachpartie
Der Künstler wird im Text mit dem
Titel "Die Partie Duchamps" ("La Partita
di Duchamp") gleich zu Beginn als "Schlüsselfigur"
vorgestellt, an der man nicht vorbei könne, will
man die Verbindung verstehen und die Beziehungen enthüllen,
die zwischen den schachlichen Ereignissen der 20er Jahre
(der Übergang vom Romantizismus zum Hypermodernismus)
und den diversen künstlerischen und kulturellen
Verwandlungen" stattfanden.
Um uns den Grundgedanken der Zeit kurz
und präzise zu erinnern, wird Appolinaire zitiert:
"Der Mensch ist auf der Suche nach einer neuen
Sprache, über die uns die Grammatiken keiner Sprache
etwas sagen können" und man wird sehen, dass
Duchamps Auseinandersetzung mit dem Schach im wesentlichen
der Suche nach dieser Sprache, besser: dieser Expressivität,
entspricht. Die Suche nach neuem Ausdruck erstreckte
sich auf alle Bereiche der ästhetischen menschlichen
Tätigkeiten, inklusive, so Pezzuto, auf das Schach.
"Kein Bereich der Kultur und der Wissenschaften
war dazu bestimmt, diese Periode unversehrt zu überstehen.
Auch für das Schach war eine Revolution im Kommen,
repräsentiert durch die Hypermodernen, dazu bestimmt,
die theoretischen Konzeptionen und das Aussehen dieser
kleinen Welt tiefgreifend zu verändern" (4).
Es ist exakt dieser mitreißende
Enthusiasmus, den man vielleicht bremsen müsste,
ist es doch überhaupt nicht klar, ob die Entwicklung
des Schachs erstens mit der allgemeinen kulturellen
Evolution vergleichbar ist, oder sich dieser, wie hier
suggeriert, sogar einfügt, ob das Schach überhaupt
ein künstlerisches Ereignis ist und nicht doch
eigentlich viel weniger weltoffen als (andere) Künste
und ob es zweitens, derartige übergreifende Entwicklungsschübe
überhaupt gibt, statt, wie man ja auch behaupten
könnte, es sich hierbei um zufällige Parallelereignisse
handelt oder aber man die Idee des Fortschritts überhaupt
negiert. Das involviert Fragen von geschichtsphilosophischer
Dimension, die ein solches Textchen gar nicht beantworten
kann, also liest man weiter und hält diese Vorbehalte
dabei präsent. Anders gesagt: Wenn wir des Autors
Verve ungeprüft und unkritisiert durchgehen lassen,
dann bedeutet dies automatisch, dass wir es nicht als
wissenschaftlichen Text rezipieren und anerkennen können.
Nun gibt es allerdings nur wenige Menschen
von Rang und Namen, die einen derartigen Enthusiasmus
rechtfertigen: Duchamps Werk ist nicht nur von schachlicher
Auseinandersetzung geprägt, ebenso wie sein Leben,
sondern er findet Interpretationen die als einzigartig
zu gelten haben, mehr noch, er unterbricht 1923 über
Jahre seine künstlerische Produktion zu Gunsten
des Spiels. "Von diesem Moment an und für
die folgenden zehn Jahre war ihm nicht die Sprache der
Kunst geläufig, sondern die des Schachs, eine Passion,
die bis in seine Kindheit zurückreicht" (5).
Zwar sei Duchamp keineswegs, wie geschrieben wurde,
ein Spieler von Welt- oder auch nur europäischem
Rang, aber seine spielerische Stärke war trotzdem
außergewöhnlich, "man kann es heutigentags
mit der eines FIDE-Meisters" vergleichen (48).
Die Liste der schachlichen Erfolge ist beeindruckend:
erste und vordere Plätze bei großen nationalen
Turnieren, mehrfache Olympiateilnahme für Frankreich,
selbst ein Remis gegen den Weltklassespieler Marshall
usw. Mehr kann man von einem Hobbyspieler, selbst wenn
er sich für einige Jahre auf das Schach konzentriert,
um so mehr da ihn das Kämpferische daran überhaupt
nicht interessiert, wohl kaum erwarten. Dabei war Duchamp
eine sehr vielfältige Person, der sich zeitlebens,
neben der Kunst und dem Schach, als Graveur, Schauspieler,
Filmemacher, Herausgeber, Schriftsteller, Kunsthändler,
selbst als Pokerspieler hervortrat, all dies immer nur
so lange, wie es ästhetische Befriedigung verschaffen
konnte. Am Ende mag sein ganzes Leben, gekennzeichnet
durch zahlreiche bewusste Änderungen, einer Schachpartie
geglichen haben: "
Walter Arnsberg, sein intimer
Freund sagte einmal, dass die gesamte künstlerische
Evolution Duchamps aus der Nähe betrachtet, ihn
an eine Schachpartie erinnere in der jedes Werk einem
Zug entspräche, worauf Duchamp antwortete: Dein
Vergleich zwischen der chronologischen Ordnung meiner
Werke und einer Schachpartie ist sehr treffend
Aber was wird das schlussendliche Resultat sein? Wird
es mir gelingen, Matt zu setzen oder werde ich das Matt
erleiden?" (7). Eine Antwort, die den geschulten
Geist beweist, die einzige überhaupt mögliche
Antwort auf derartige Vergleiche.
Partie d'échecs 1910 (Philadelphia Museum of Art)
Dabei muss man auf eine solche Großmetapher
gar nicht zurückgreifen; im Werk selbst ist das
Schach von Anfang an gegenwärtig, wie etwa in dem
1910 vollendeten Bild "Die Schachpartie".
"Das Werk stellt seine beiden Brüder dar,
beide ebenfalls Künstler, während sie im Garten
Schach spielen. Duchamp versucht, die geistige und psychologische
Dimension durch die dargestellte Konzentration der beiden
Spieler, die tief über das Brett gebeugt sind,
widerzugeben, während die beiden Frauen ganz im
Gegenteil uninteressiert erscheinen" (9), fast
gelangweilt und einen verlassenen Eindruck machend.
"Zu diesem Zeitpunkt seines Lebens sind die Malerei
und das Schachspiel, die eine intensive Rivalität
innerhalb der Familie entfachen, schon fest verwurzelte
Interessen. Und im Jahr darauf beginnt eine zahlreiche
Serie von Zeichnungen zum Thema, Vorbereitungen für
das Werk Portrait der Schachspieler"
(9f.), das in abstrakter Form, stark dem Kubismus geschuldet
und simplifiziert, die spielerische Situation darstellt.
Das Bild signalisiert einen künstlerischen Übergang,
es "veranschaulicht somit, dass Duchamp schon damals
eine Konzeptualisierung des Kunstwerkes
intendierte. Die Atmosphäre des Bildes ist von
starker Vereinfachung gekennzeichnet. Es fehlt das Schachbrett
vollkommen, einige einzelne Figuren materialisieren
sich hier und da" (10). Pezzuto will darin eine
Antizipation des Hypermodernismus ausmachen, kann an
Belegmaterial allerdings nichts beisteuern, sieht man
mal von den vagen Vergleichsaussagen Duchamps und Nimzowitsch
ab, die beide das Moment der Bewegung für ihre
Theorie beanspruchen (aber das tut ein Autokonstrukteur
auch). Es ist schade aber auch sehr typisch für
diese Art von Text, dass man den weiteren Verlauf der
freien und doch schon willentlich gelenkten Assoziation
des Lesers überlässt, statt das Argument zu
vertiefen.
Portrait de Joueurs d'échecs, 1911 (Philadelphia Museum of Art)
Für die Ambivalenz Duchamps ist
bezeichnend, wenn er, der stets unter den internen Vorgaben,
den Konventionen litt, die Malerei zeitweise aufgibt,
da sie ihm zu wenig Ausdrucksfreiheit ließ und
sich ausgerechnet dem Schach widmet, einer Beschäftigung,
die doch ganz offensichtlich viel restriktiver geregelt
ist als jegliche Kunstform.
Nach dieser Entscheidung beginnt Duchamps
ausgeprägte Reisezeit, deren Ziele er sich, erneut
um ausgefahrene Gleise zu verlassen, oft nach dem Zufallsprinzip
aussucht; so z.B. verbringt er eine Weile in Buenos
Aires ohne weder eine Menschenseele zu kennen, noch
der Sprache mächtig zu sein. Pariser und New Yorker
Künstlerkreise bleiben jedoch sein Hauptumgang,
aber auch dort wurde er als "der Schachspieler"
wahrgenommen, der dem eigentlichen Treiben mental entfernt
bleibt, wie eine Zeichnung von Boix beweist.
Schließlich gelingt ihm mit den
konzeptuellen "Readymades" der Durchbruch:
"Die enthaltene Botschaft der Readymades ist in
der Tat revolutionär, das Konzept des Kunstwerkes
bloß zu legen, um einen kulturellen Umsturz vorzuschlagen
("mette a nudo il concetto di opera darte
per proporne un ribaltamento culturale") Das Kunstwerk
ist, in den Augen Duchamps, lediglich ein Produkt der
Konventionen, eines kollektiven Einverständnisses.
Nach jahrhundertealter künstlerischer Produktion,
die auf traditionellen Mitteln und handwerklicher Fähigkeit
beruhte, auf der Fähigkeit des Künstlers,
ist der Zeitpunkt gekommen, um dem physischen Teil der
Kunst weniger Aufmerksamkeit zu schenken, um die konzeptuale
Dimension voranzutreiben" (20). Diese revolutionierende
Idee, die Duchamp natürlich nicht alleine gehört,
deren Folgen noch heute nicht abschließend zu
bewerten sind, bringt ihm Aufmerksamkeit, Ruhm, Geld
und Arbeit. Trotzdem, so betont Pezzuto, habe sein Interesse
am Schach nicht nachgelassen, im Gegenteil: "In
der Zwischenzeit nimmt die Leidenschaft für das
Schach noch größere Ausmaße an. Er
bemerkt in dieser Periode im Tagebuch: Ich spiele
Tag und Nacht und nichts interessiert mich mehr auf
der Welt, als einen guten Zug zu finden. Die Malerei
gefällt mir immer weniger" (20). Noch 1929
wird sich Andrè Breton im Zweiten Surrealistischen
Manifest über Duchamps geistige Abwesenheit, verursacht
durch die Schachleidenschaft, beklagen, aber auch anfügen,
dass dies "vielleicht auch eine seltsame Vorstellung
einer Intelligenz gibt, die nicht dazu geneigt ist,
zu dienen", die andererseits aber vom
Skeptizismus in großem Ausmaße gequält
wird (30).
Dass es sich dabei nicht um Bizarrerien
handelt, zeigen Duchamps eigene Äußerungen:
"An sich ist das Schachspiel ein Zeitvertreib,
dem sich jedermann widmen kann – so sagt man. Ich
habe es sehr ernst genommen und ich habe es durchdrungen,
weil ich eine Ähnlichkeit mit der Malerei entdeckt
habe. In der Tat, wenn man eine Partie spielt, dann
ist das, als ob man eine Skizze niederschreibt oder
eine technische Zeichnung einer Maschine anfertigt,
die dich gewinnen oder verlieren lässt. Es ist
die plastische Seite des Spieles, die mich
erobert hat", und andernorts, in einem Brief an
Arnsberg: "Ich bin vollkommen bereit ein Schachfanatiker
zu werden. Jede Sache um mich herum nimmt die Form eines
Springers oder einer Dame an und die äußere
Welt hat für mich kein anderes Interesse als die
Umwandlung in eine Gewinn- oder Verluststellung"
(32f.). Formal mag man Parallelen zu Äußerungen
berühmter Schachgrößen ziehen, à
la "Schach ist mein Leben" – oder auch
zu literarischen Figuren wie Adolf
Adolfi, Dr. B. und Czentowics, aber man darf den
wesentlichen Unterschied nicht negieren zwischen dem
manischen Spiel des durchschnittlichen Großmeisters
und dem des Künstlers, selbst wenn viele Schachmeister
den Künstlerstatus für sich beanspruchen.
Der Unterschied liegt im Akt der Freiheit begründet.
Das Spiel des Schachprofis ist nicht (mehr) einem Willen
entsprungen und spielt sich nicht (mehr) vor dem Hintergrund
der vielen anderen Möglichkeiten ab. Duchamps Äußerung
darf also keineswegs als Lob oder gar Rechtfertigung
des gemeinen Schachfanatismus missverstanden werden.
Pezzutos großes Verdienst ist es, diesen Zusammenhang,
das Herzstück der gesamten Auseinandersetzung zumindest
angedeutet zu haben: "Es ist ein Akt eines überlegenen
Willens, mit dem man sich einfach entscheidet, einen
Weg zu verlassen, der sich als zu steril offenbarte.
Das Schach nimmt die Stellung der Malerei ein,
das Gebiet auf dem der Künstler Erfolglosigkeit
und Frustration erfuhr, schließlich begreifend,
wie schwer eine Revolution in der Kunst sei.
Er muss frei schaffen können. Diese Behauptung
bringt die Überlegung mit sich, dass man die Nutznießung
(fruizione) des Werkes durch das Publikum annulliert"
(34ff.).
Schach als "Akt eines
überlegenen Willens" und der Freiheit:
Marcel Duchamp und Man Ray spielen auf einem Dach in
einer Szene des Films "Entr'acte" von René
Clair, 1924
Für die Kunst bedeutet die Entscheidung:
Nur wer die Möglichkeit hat sich gegen das Kunstwerk
zu entscheiden, so wie es ist oder wie es gewesen wäre,
nur der kann Künstler sein, wenngleich dies noch
kein hinreichendes Kriterium für den Künstler
ist. Die Verweigerung der Kunst durch den wahren Künstler
gehört zu den künstlerischsten und metaphysischsten
Akten überhaupt. Nur der wirkliche Künstler
kann sich gegen die präpotente Macht des Betrachters
und Kritikers zur Wehr setzen und dies ist der Grundgedanke
und das Dilemma eines jeden Künstlers: der Macht
des Publikums, auch dessen Erwartung, der Macht des
Anderen, zu entfliehen [3].
Alles was man hat, beeinträchtigt
die Freiheit. Sich von etwas befreien, etwas loswerden,
bedeutet immer auch einen Schritt in die Unabhängigkeit,
denn nur vom Guthaben hängt man wirklich ab, nur
der Besitz hindert die Freiheit, weshalb seit Jahrtausenden
die größten Denker den unangenehmen Gedanken
schmackhaft machen wollten, dass man sich von seinem
Wertvollsten zu trennen habe, um tatsächlich glückselig
sein zu können. Duchamps Loslösung von der
Malerei war nun auch ein Schritt in diese Richtung:
"Das Aufgeben der Malerei erlaubte es, sich einer
Obsession zu entledigen
Sie sind unendlich, die
neuen möglichen Wege
" (36) – dies
ist der Effekt der Befreiung psychologisch gelesen:
plötzlich scheinen alle Wege offen zu sein und
erst wenn man sich für einen entschieden hat, gerät
man wieder in die Mühle aus schöpferischer
(Un)Befriedigung und Konvention. "Das Schach repräsentiert
einen dieser Pfade, jenen in dem die Intelligenz sich
in ihrer reinsten Form erheben kann, unkonditioniert"
(37) – beginnt Pezzuto zu schwelgen und zitiert,
als sei dies ein Beweis die bekannte Duchampsche Äußerung:
"Ich bin bereit für die Schlussfolgerung,
dass, während nicht alle Künstler Schachspieler,
doch alle Schachspieler Künstler sind", die
er im Übrigen auf einem Kongress einer amerikanischen
Schachgesellschaft tätigte und sicher viel Beifall
dafür einheimste. Aber sie macht nach allem Bisherigen
wenig Sinn, weil sie ihre eigene Prämisse, die
der freien Willensentscheidung vergessen hat und mehr
noch, mit ihrem Absolutismus ("alle"), diese
fundamentale Grundlage verrät. Es ist mit diesem
Wort wie so oft in der Geschichte, die zu einsätzigen
Formeln neigt und eindimensionale Repräsentationen
fordert (z.B.: Religion ist Opium für das Volk.
Oder: Gott ist tot. Oder:
.): es ist das falsche,
um Duchamps Verhältnis zum Schach widerzugeben.
Zudem fühlt sich eine Spezies geadelt, deren wahrer
Verdienst für das Schach längst noch nicht
erwiesen ist, die Spezies der Großmeister und
Berufsspieler, die das Spiel technisch auf vollkommen
neue Höhe getragen haben, aber - das ist die Frage
- dessen spirituelle Komponente vollkommen vergessen
zu haben scheinen und damit auch die künstlerische.
Wir sahen bereits, dass Kunst nur aus
der Fülle entstehen kann, aus den unendlichen Möglichkeiten,
die einem technisch perfekten Spieler, den man seit
seinem sechsten Lebensjahr tagtäglich für
das Schach trimmte, nie und nimmer gegeben gewesen sein
kann. Der mag zwar Kunstwerke schaffen können,
aber ist deswegen noch kein Künstler. Viel eher
gleicht er einer Maschine, die ein Programm abspult.
Überhaupt ist die Schachpartie nur das Ausloten
eines Programms von vorgegebenen und endlichen Möglichkeiten,
seine künstlerischen Potenzen sind also von vornherein
begrenzt, auch wenn der Akteur das anders empfinden
mag [4]. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand
der Photographie recht gut verdeutlichen [5]: auch hier
glaubt der Photograph an seine Kreativität, wenn
er immer wieder neue Blickwinkel, Beleuchtungen, Bildschärfen,
Objekte, Filter usw. probiert, tatsächlich aber
lotet er nur die Grenzen des Apparates aus, spult ein
Programm ab, dessen Rollenverteilung in der Hardware
vorgeschrieben sind, verwirklicht er dessen Ziele. So
gesehen ist der Photograph der Sklave des Apparates,
er kann über dessen Grenzen nicht hinaus solang
er als Photograph agiert. Ähnlich ist es mit dem
Schachspieler, der die Schranken des Schachprogramms
auszuloten versucht und würde man alle bisher gespielten
Partien zusammennehmen, wer weiß schon, wie viele
der möglichen sinnvollen Stellungen, die das Brett
bietet, bereits auf ihm standen? Der Reiz des Schachs
liegt so gesehen nur in der für das einzelne menschliche
Hirn unerfassbaren Fülle, aber aus einem an-sich-Standpunkt
arbeiten wir alle eifrig an der Realisierung der sinnvollen
Konstellationen. Es wird das verwirklicht, was potentiell
schon da ist.
Hinsichtlich
des Kunstcharakters ist damit allerdings erst eine Seite
der Medaille beleuchtet, die minimierende. Auf der anderen
Seite ist das Schach für die Kunst gerade wegen
seiner Enge besonders interessant, da sich die Verwirklichung
intensiv gestaltet und daher alles Beliebige weitestgehend
ausschließt. Dies mag durchaus Duchamps unausgesprochener
Gedanke gewesen sein, dessen nachbildnerische Kunst
vor allem, sich extensiv gestaltete, indem sie alles
für die Kunst verfügbar machte: wenn das Aufkleben
von Gummihandschuhen oder das Aufstellen einer Badewanne
im Grünen usw. Kunst ist, dann wird der Begriff
des Kunstwerkes unendlich ausgedehnt und von seinen
engen Vorstellungen befreit, aber andererseits wird
der intensive Gebrauch der Materialien und damit auch
der handwerklich vervollkommnete durch einen extensiven
ersetzt und ist damit einer prinzipiellen Beliebigkeit
ausgesetzt. So könnte man z.B. Dartpfeile auf ein
Schachbrett werfen und dies für Entgrenzung der
Schachkunst, für Befreiung aus den strengen internen
Regeln, erklären. Hält man sich freilich an
das enge Regulatorium, so wird die Befriedigung stets
eine intensive, eine qualitative und nicht quantitative
sein. Womit der Künstler bewusst spielt, ist der
Konflikt zwischen Kontingenz und Notwendigkeit.
Aber hat Duchamp ein schachliches Kunstwerk
auf dem Brett geschaffen, ist eines im allgemeinen Gedächtnis
geblieben? Oder müssen wir uns tatsächlich
mit dem Paradox zufrieden geben, dass der Künstler
ohne Kunstwerk bleibt und die Kunstwerke nicht von Künstlern
stammen? Fragen, die sich Pezzuto weder stellt noch
beantwortet, auf die das von ihm zusammengetragene Material
auch keine Antwort zu geben weiß. Eine Äußerung
wie die folgende, zeigt nur, wie wenig klar Duchamps
eigene Vorstellungen waren und dass man vielleicht auch
einfach überinterpretiert: "Du siehst, dass
ich nicht aufgehört habe, Maler zu sein; ich zeichne,
in dem ich Hasard (Poker?) spiele" (38). Möglicherweise
könnte man dieselbe Geschichte auch für das
Hasardspiel schreiben.
Ein Kunstwerk Duchamps?:
Partie mit Analyse aus Bulletin No. 67, Fédération Française
des Echecs. 1935
Den nachhaltigsten Eindruck auf beide
Welten, die des Schachs und die der Kunst, hat Duchamp
ohne Zweifel mit seinem "Großen Glas"
hinterlassen, seinem Hauptwerk, an dem er zwanzig Jahre
gearbeitet hat. Die im linken unteren Teil zu sehenden
"neun Jungfrauen" wurden im Auslegungswust
auch als Schachfiguren interpretiert bzw. als von Schachfiguren
inspiriert. Vor allem aber die 1963 in Pasadena vom
Photographen Julian Wasser aufgenommene Serie, hat Weltruhm
und permanente Aufmerksamkeit in der Schachwelt erlangt.
Auf ihr ist Duchamp vor seinem "Großen Glas"
schachspielend, Zigarre in der Hand, zu sehen; im gegenüber
sitzt die bis dahin unbekannte vollbusige zwanzigjährige
Studentin Eve Babitz. Sexualität und Schach, Duchamps
Lebensthemen sind hier intensiv wie nirgendwo bildlich
vereint. Eve Babitz hatte übrigens vom Schach keinerlei
Ahnung und war enorm aufgeregt, weshalb Duchamp das
"erste Spiel in drei Zügen gewann" [6].
Tatsächlich ist auf dem Brett eine Eröffnungsstellung
zu sehen (offensichtlich wurde gerade 1. e4 d6 2. d4
Sc6 3. d5 Se4 gespielt; Duchamp scheint zu überlegen,
ob er mit 4. f4 den Springer jagt – was bei Anfängern
meist zu Fehlern führt -, oder mit 4. Sf3 solide
fortsetzt).
Im abschließenden Teil seines Textes
kommt Pezzuto - wobei er stellenweise etwas die Kon-tenance
verliert - schließlich auf die geistige Verbindung
der neuen Kunst mit der neuen Spielauffassung der Hypermodernen
Schule zu sprechen, den man hier nur vorzustellen hat.
"Das Große Glas hinter sich lassend,
kann Duchamp jetzt sich auf eine neue Reise wagen; Ziel
ist das Universum, das durch das Schach repräsentiert
wird. Das Spiel hütet ein unver-wechselbares
Mittel zur intellektuellen Befreiung. Dies kann man,
ohne Übertreibung, als ein Sciencefictionabenteuer
bezeichnen, in dem Marcel, um neue Territorien zu erforschen,
die großen Theoretiker der hypermodernen Schachrevolution
begleiten
. Tiefgreifend vom Sur-realismus beeinflusst,
dringen die Hypermodernen in die Szene ein, mit einem
Eifer und einer Überzeugung, die sofort zahlreiche
Proselyten anzieht. Bis in ihre Lebensführung hinein
tun die Hypermodernen alles, um den Surrrealisten zu
gleichen, weichen sie den traditionellen Klischees aus.
Tartakower, dessen Bücher wegen der vielen charakteristischen
Aphorismen stets eine angenehme Lektüre sind, empörte
die Experten als er 1924 in einem Turnier in New York,
die Eröffnung 1. b2 – b4 erfand und sie Orang
Utan nannte, nachdem er den Zoo der Bronx besichtigt
hatte" (43f.). In seinem Furor kommt es dem Autor
nicht in den Sinn, zu fragen, ob es sich hier tatsächlich
um vergleichbare Größen handelt: ist der
(im Übrigen nicht von Tartakower erfundene) Zug
1.b4 ein surrealistisches Kunstwerk? Man kann b4 einfach
nur spielen, um eine Partie zu gewinnen, insbesondere
dann wenn man mit der Überraschung des Gegners
rechnet.
Über Nimzowitsch weiß er dann
folgendes zu sagen, noch immer im Ton überschwelgender
Begeisterung: "Die theoretischen Grundlagen seiner
Schriften offenbaren verschiedene Berührungspunkte
mit dem Surrealismus. Eine bildschöpferische, paradoxale
und manchmal auch kindliche Sprache nutzend, die voller
Witz ist, kündigt Nimzowitsch und seine Weggenossen
an, das Schachbrett explodieren zu lassen, den in ihm
verwurzelten Dynamismus freilegen zu wollen. Ihr Ziel
ist es, die von der Theorie auferlegten Grenzen zu überwinden
"
(45). Wenn es tatsächlich Nimzowitschs Ziel gewesen
sein sollte, auch ein Sprachkunstwerk mit seinem "Mein
System" zu schaffen, so wird man festhalten müssen,
dass er zumindest hierin grandios gescheitert wäre,
denn was dieses Buch so schwer lesbar macht, ist die
nervende und allzu gewollte Art und Weise, wie es geschrieben
ist.
Wenn Duchamp schreibt: "
die
Figuren sind das Alphabet in denen sich die Gedanken
ausdrücken. Diese Gedanken, obwohl sie sich auf
dem Schachbrett in einer sichtbaren Handlung darstellen,
drücken ihre Schönheit doch in einer abstrakten
Manier aus, wie in einem Gedicht. So macht das Spiel
Diskurs (spricht es), aber einen ideografischen Diskurs",
dann glaubt Pezzuto, dass dies "in voller Übereinstimmung
mit den Werken Nimzowitschs Hypermodernes Schach"
und Praxis meines Systems" (46) geschehen
sei.
"Die Hypermodernen bedauern, dass
das Schach aufgrund der Entwicklung der Theorie sich
in einen immer gigantischeren Apparat, ein unfruchtbares,
ödes Universum, ohne Kreativität entwickelt
habe. Tartakower bestätigt dies: Einst spielte
man Schach, jetzt spielt man Variante" -
ist dies nicht heutigentags wieder so, trotz der hypermodernen
Revolution? - "Ihre Aufgabe ist es also zu zeigen,
dass es hier noch großen Freiraum für die
Phantasie, die Vorstellungsfähigkeit und die Willenskraft
gibt. Ohne diese Instrumente kann man auch keine Möglichkeit
für ein kreatives Voranschreiten des Spiels schaffen.
Und daraus folgt auch, dass während jede Partie
gespielt wird, man versucht, das Maximum von sich selbst
zu geben. Diese Verpflichtung wird von nun an zum kategorischen
Imperativ der Neoromantiker
Die Mission,
die die Neoromantiker zu lösen hatten, wird von
Duchamp voll und ganz geteilt und sie verflicht sich
mit dessen künstlerischen Problemen. Das Grundproblem
ist jenes, das schon hinsichtlich der Malerei sichtbar
wurde; im Schach alle Kreativität zu befreien die
im menschlichen Geist enthalten ist. Und dies versuchte
er zu schaffen, in dem er alle verfügbare Energie
aufbringt.
Duchamp war sicherlich ein Hypermoderner
dem Stile nach, wie Eduard Lasker bezeugt, der ihn als
starken Spieler bezeichnete, einen
Meister unter den Amateuren und ein wunderbarer Gegner.
Gewöhnlich riskierte er lieber viel, nur um einer
schönen Partie neues Leben einzuhauchen, anstatt
vorsichtig zu spielen um nur den einfachen Gewinn zu
erreichen" (46ff.).
"Das große Glas".
Die im linken unteren Teil zu sehenden "neun Jungfrauen"
wurden auch als Schachfiguren interpretiert.
Es ist zu bezweifeln, ob sich aus derartig
allgemein gehaltenen Äußerungen im Stile
eines gutgesinnten Nachrufs, tatsächlich die Zugehörigkeit
zu einer theoretischen Spielauffassung nachweisen lässt.
Wirklich interessant und waghalsig werden Pezzutos Gedanken,
wenn er auf die ästhetische Auffassung Duchamps
zu sprechen kommt.
Ausgangspunkt ist erneut die alte Streitfrage,
worum es sich beim Schach handele: Sport, Wissenschaft
oder Spiel und Kunst, eine Frage, deren Sinnhaltigkeit
längst noch nicht entschieden ist, die Duchamp
aber ganz eindeutig beantwortet, selbstredend im Sinne
der Kunst. "Duchamp, nachdem er sehr viel gespielt
hat und an zahlreichen Turnieren teilnahm, kommt schließlich
zu dem Schluss, am Spiel den rein spielerischen Aspekt
hervorzuheben und den agonistischen zu brandmarken.
Sein neues Ziel wird durch die nichtkonkurrierende
Schachpartie gekennzeichnet sein; jener, in der der
Gegner absichtlich beseitigt wurde, evakuiert',
um eine ihm liebe Ausdrucksform zu wählen, weil
dieser keine weitere Bedeutung mehr hat'. Dies
ist für Duchamp das einzige Mittel, um den sich
ausschließenden Gegensatz von Weiß und Schwarz
ins Eine zurückzuführen, wobei er jene "chymische
Hochzeit" zwischen Bruder und Schwester realisiert,
die seine nichtrealisierten Bemühungen des "Großen
Glases" charakterisierten" (52).
Ob
dem tatsächlich so ist, ob man ein bildnerisches
Kunstwerk wirklich eins zu eins in eine Schachpartie
übertragen kann und ob Duchamp die hier mit leichter
Feder apostrophierten Niveauverschiebungen akzeptiert
hätte
, das alles muss offen bleiben und wird
vielleicht an anderer Stelle wieder aufgegriffen werden.
Pezzutos Gedanken sind faszinierend, keine Frage, gehen
aber in diesen abschließenden Teilen die Gefahr
ein, als bloße Spinnerei, als freie Assoziation
und flottierende Bedeutung abgestempelt zu werden. Es
ist immer suspekt, ein paar geheimnisvolle Andeutungen
zu machen und dann den Leser damit allein zu lassen,
so als sei eigentlich alles gesagt und Unklarheitern
seien dem Unverständnis auf der Rezipientenseite
zu schulden. Selbiges - nicht zuletzt hinsichtlich der
Brisanz - gilt auch, wenn der Autor zum letzten Mal
auf die direkte Beziehung dieser "Ästhetik"
zur hypermodernen Schule eingeht und, unausgesprochen
zur existentialistischen Philosophie und deren neostrukturalistischen
Nachfolger, für die das Problem des "Anderen"
stets die Hauptaufgabe des Denkens stellte [7].
Demnach standen die hypermodernen Meister einer utilitaristischen
Spielauffassung vollkommen fremd gegenüber. "In
anderen Worten: der Fehler des Gegners, der die Tür
zum Gewinn aufstößt, wurde mehr gefürchtet
als die eigene Niederlage, denn in ihm repräsentierte
sich ein inakzeptabler Makel in der Ökonomie des
eigenen Gedankengebäudes. Das so entworfene Schach
riskiert emporzusteigen, um die die tragischste aller
Künste zu werden, da der Spieler im Schaffensprozess
abhängig von einem externen Element wird, das außerhalb
seiner Willenssphäre liegt: dem Gegner. Die Perfektion
der gedanklichen Architektur, die der neoromantische
Spieler versucht zu erreichen, ist bedroht, in jedem
beliebigen Moment, abhängig von dem, was der Gegner
macht. Es liegt in letzter Instanz an ihm, ob er das
größte Vergnügen - nicht als Sieg, sondern
als Kunstwerk - erlaubt oder negiert" (50f.). Der
vermeintliche geistige Befreiungsakt führt zur
Versklavung seiner selbst und zur Abhängigkeit
durch den anderen.
(Ferruccio Pezzuto: La Partita di Duchamp.
Brescia 1994)
Band 4 der "Messaggerie Scacchistiche"
beschäftigt sich mit dem Schach im Film, geht aber
über eine bloße Nennung und Inhaltsangabe
nicht hinaus.
Ettore Ridola: Mosse pericolose.
Gli Scacchi in cent'anni di cinema. Brescia 1995
--- Jörg Seidel, 04.12.2002 ---
[1]
Sylvester, David: Gespräche mit Francis Bacon.
München/New York 1997. S. 61
[2] Leider kenne ich Ernst
Strouhals "Duchamps Spiel" Wien 1994 nicht;
das Buch ist leider nicht mehr aufzutreiben.
[3] vgl.: Jörg
Seidel: Ondologie Fanomenologie Kynethik. Essen
1999. insbesondere S. 49-55 und 151-160
[4] vgl. zur Problematik
George Steiner
[5] das Beispiel stammt,
wenn ich mich recht entsinne, von Jean Baudrillard
[6] Calvin Tomkins: Marcel
Duchamp. Eine Biographie. München 1999. S. 493
[7] vgl. exemplarisch Levinas
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