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LITERATUR
4. Dezember 2002

Schachbotschafter III:
Marcel Duchamp

Warum versucht man überhaupt nach all den großen Künstlern, et-was noch einmal zu machen? Nur, weil von Generation zu Generati-on durch das, was die großen Künstler gemacht haben, sich die inne-ren Einstellungen verändern.

Francis Bacon [1]


Im dritten Band schließlich greift Ferruccio Pezzuto, der Herhausgeber der Reihe, Historiker und journalistischer Mitarbeiter der großen italienischen Tageszeitung "La Stampa", selbst zur Feder und widmet sich einem äußerst interessanten Thema: Marcel Duchamp. In der Tat, Duchamp verdient mehr als ein schachhistorisches Interesse, denn was er, direkt und künstlerisch vermittelt, mitzuteilen hat, ist viel mehr wert als lediglich in die Ahnengalerie bekannter Persönlichkeiten, die sich dem Schach verschrieben und vielleicht noch ein lockeres Sprüchlein für die Anekdotenkiste parat hielten, aufgenommen zu werden; seine Ansichten – Pezzuto macht das auf spannende und leider viel zu kurze Weise klar – sind originäre Beiträge zur schachphilosophischen, speziell zur schachästhetischen Diskussion, die im Übrigen, wenn sie korrekt sind, alle Schachspieler direkt betrifft, seien sie nun Profis oder Patzer. Sie verdienen weit mehr als ein schmales Bändchen der "Messaggerie Scacchistiche" je wird bieten können [2], aber bereits dieser überblicksartige Beitrag des Italieners ist lobenswert, nicht zuletzt, weil Pezzuto den Mut aufbringt, zumindest hier und da, eigene Abstraktionen und Ableitung zu wagen, die mitunter zu global, zu allgemein ausfallen, aber schon mal auf eine notwendige Argumentationsrichtung weisen. Und natürlich ist das Bändchen informativ, wenn auch in indirekter Abhängigkeit vom Informationsstand des Lesers.

Man Ray und Marcel Duchamp bei einer Schachpartie

Der Künstler wird im Text mit dem Titel "Die Partie Duchamps" ("La Partita di Duchamp") gleich zu Beginn als "Schlüsselfigur" vorgestellt, an der man nicht vorbei könne, will man die Verbindung verstehen und die Beziehungen enthüllen, die zwischen den schachlichen Ereignissen der 20er Jahre (der Übergang vom Romantizismus zum Hypermodernismus) und den diversen künstlerischen und kulturellen Verwandlungen" stattfanden.

Um uns den Grundgedanken der Zeit kurz und präzise zu erinnern, wird Appolinaire zitiert: "Der Mensch ist auf der Suche nach einer neuen Sprache, über die uns die Grammatiken keiner Sprache etwas sagen können" und man wird sehen, dass Duchamps Auseinandersetzung mit dem Schach im wesentlichen der Suche nach dieser Sprache, besser: dieser Expressivität, entspricht. Die Suche nach neuem Ausdruck erstreckte sich auf alle Bereiche der ästhetischen menschlichen Tätigkeiten, inklusive, so Pezzuto, auf das Schach. "Kein Bereich der Kultur und der Wissenschaften war dazu bestimmt, diese Periode unversehrt zu überstehen. Auch für das Schach war eine Revolution im Kommen, repräsentiert durch die Hypermodernen, dazu bestimmt, die theoretischen Konzeptionen und das Aussehen dieser kleinen Welt tiefgreifend zu verändern" (4).

Es ist exakt dieser mitreißende Enthusiasmus, den man vielleicht bremsen müsste, ist es doch überhaupt nicht klar, ob die Entwicklung des Schachs erstens mit der allgemeinen kulturellen Evolution vergleichbar ist, oder sich dieser, wie hier suggeriert, sogar einfügt, ob das Schach überhaupt ein künstlerisches Ereignis ist und nicht doch eigentlich viel weniger weltoffen als (andere) Künste und ob es zweitens, derartige übergreifende Entwicklungsschübe überhaupt gibt, statt, wie man ja auch behaupten könnte, es sich hierbei um zufällige Parallelereignisse handelt oder aber man die Idee des Fortschritts überhaupt negiert. Das involviert Fragen von geschichtsphilosophischer Dimension, die ein solches Textchen gar nicht beantworten kann, also liest man weiter und hält diese Vorbehalte dabei präsent. Anders gesagt: Wenn wir des Autors Verve ungeprüft und unkritisiert durchgehen lassen, dann bedeutet dies automatisch, dass wir es nicht als wissenschaftlichen Text rezipieren und anerkennen können.

 

Nun gibt es allerdings nur wenige Menschen von Rang und Namen, die einen derartigen Enthusiasmus rechtfertigen: Duchamps Werk ist nicht nur von schachlicher Auseinandersetzung geprägt, ebenso wie sein Leben, sondern er findet Interpretationen die als einzigartig zu gelten haben, mehr noch, er unterbricht 1923 über Jahre seine künstlerische Produktion zu Gunsten des Spiels. "Von diesem Moment an und für die folgenden zehn Jahre war ihm nicht die Sprache der Kunst geläufig, sondern die des Schachs, eine Passion, die bis in seine Kindheit zurückreicht" (5). Zwar sei Duchamp keineswegs, wie geschrieben wurde, ein Spieler von Welt- oder auch nur europäischem Rang, aber seine spielerische Stärke war trotzdem außergewöhnlich, "man kann es heutigentags mit der eines FIDE-Meisters" vergleichen (48). Die Liste der schachlichen Erfolge ist beeindruckend: erste und vordere Plätze bei großen nationalen Turnieren, mehrfache Olympiateilnahme für Frankreich, selbst ein Remis gegen den Weltklassespieler Marshall usw. Mehr kann man von einem Hobbyspieler, selbst wenn er sich für einige Jahre auf das Schach konzentriert, um so mehr da ihn das Kämpferische daran überhaupt nicht interessiert, wohl kaum erwarten. Dabei war Duchamp eine sehr vielfältige Person, der sich zeitlebens, neben der Kunst und dem Schach, als Graveur, Schauspieler, Filmemacher, Herausgeber, Schriftsteller, Kunsthändler, selbst als Pokerspieler hervortrat, all dies immer nur so lange, wie es ästhetische Befriedigung verschaffen konnte. Am Ende mag sein ganzes Leben, gekennzeichnet durch zahlreiche bewusste Änderungen, einer Schachpartie geglichen haben: "…Walter Arnsberg, sein intimer Freund sagte einmal, dass die gesamte künstlerische Evolution Duchamps aus der Nähe betrachtet, ihn an eine Schachpartie erinnere in der jedes Werk einem Zug entspräche, worauf Duchamp antwortete: ‚Dein Vergleich zwischen der chronologischen Ordnung meiner Werke und einer Schachpartie ist sehr treffend… Aber was wird das schlussendliche Resultat sein? Wird es mir gelingen, Matt zu setzen oder werde ich das Matt erleiden?’" (7). Eine Antwort, die den geschulten Geist beweist, die einzige überhaupt mögliche Antwort auf derartige Vergleiche.

Partie d'échecs 1910 (Philadelphia Museum of Art)

Dabei muss man auf eine solche Großmetapher gar nicht zurückgreifen; im Werk selbst ist das Schach von Anfang an gegenwärtig, wie etwa in dem 1910 vollendeten Bild "Die Schachpartie". "Das Werk stellt seine beiden Brüder dar, beide ebenfalls Künstler, während sie im Garten Schach spielen. Duchamp versucht, die geistige und psychologische Dimension durch die dargestellte Konzentration der beiden Spieler, die tief über das Brett gebeugt sind, widerzugeben, während die beiden Frauen ganz im Gegenteil uninteressiert erscheinen" (9), fast gelangweilt und einen verlassenen Eindruck machend. "Zu diesem Zeitpunkt seines Lebens sind die Malerei und das Schachspiel, die eine intensive Rivalität innerhalb der Familie entfachen, schon fest verwurzelte Interessen. Und im Jahr darauf beginnt eine zahlreiche Serie von Zeichnungen zum Thema, Vorbereitungen für das Werk ‚Portrait der Schachspieler’" (9f.), das in abstrakter Form, stark dem Kubismus geschuldet und simplifiziert, die spielerische Situation darstellt. Das Bild signalisiert einen künstlerischen Übergang, es "veranschaulicht somit, dass Duchamp schon damals eine ‚Konzeptualisierung des Kunstwerkes’ intendierte. Die Atmosphäre des Bildes ist von starker Vereinfachung gekennzeichnet. Es fehlt das Schachbrett vollkommen, einige einzelne Figuren materialisieren sich hier und da" (10). Pezzuto will darin eine Antizipation des Hypermodernismus ausmachen, kann an Belegmaterial allerdings nichts beisteuern, sieht man mal von den vagen Vergleichsaussagen Duchamps und Nimzowitsch ab, die beide das Moment der Bewegung für ihre Theorie beanspruchen (aber das tut ein Autokonstrukteur auch). Es ist schade aber auch sehr typisch für diese Art von Text, dass man den weiteren Verlauf der freien und doch schon willentlich gelenkten Assoziation des Lesers überlässt, statt das Argument zu vertiefen.

Portrait de Joueurs d'échecs, 1911 (Philadelphia Museum of Art)

Für die Ambivalenz Duchamps ist bezeichnend, wenn er, der stets unter den internen Vorgaben, den Konventionen litt, die Malerei zeitweise aufgibt, da sie ihm zu wenig Ausdrucksfreiheit ließ und sich ausgerechnet dem Schach widmet, einer Beschäftigung, die doch ganz offensichtlich viel restriktiver geregelt ist als jegliche Kunstform.

Nach dieser Entscheidung beginnt Duchamps ausgeprägte Reisezeit, deren Ziele er sich, erneut um ausgefahrene Gleise zu verlassen, oft nach dem Zufallsprinzip aussucht; so z.B. verbringt er eine Weile in Buenos Aires ohne weder eine Menschenseele zu kennen, noch der Sprache mächtig zu sein. Pariser und New Yorker Künstlerkreise bleiben jedoch sein Hauptumgang, aber auch dort wurde er als "der Schachspieler" wahrgenommen, der dem eigentlichen Treiben mental entfernt bleibt, wie eine Zeichnung von Boix beweist.

Schließlich gelingt ihm mit den konzeptuellen "Readymades" der Durchbruch: "Die enthaltene Botschaft der Readymades ist in der Tat revolutionär, das Konzept des Kunstwerkes bloß zu legen, um einen kulturellen Umsturz vorzuschlagen ("mette a nudo il concetto di opera d’arte per proporne un ribaltamento culturale") Das Kunstwerk ist, in den Augen Duchamps, lediglich ein Produkt der Konventionen, eines kollektiven Einverständnisses. Nach jahrhundertealter künstlerischer Produktion, die auf traditionellen Mitteln und handwerklicher Fähigkeit beruhte, auf der Fähigkeit des Künstlers, ist der Zeitpunkt gekommen, um dem physischen Teil der Kunst weniger Aufmerksamkeit zu schenken, um die konzeptuale Dimension voranzutreiben" (20). Diese revolutionierende Idee, die Duchamp natürlich nicht alleine gehört, deren Folgen noch heute nicht abschließend zu bewerten sind, bringt ihm Aufmerksamkeit, Ruhm, Geld und Arbeit. Trotzdem, so betont Pezzuto, habe sein Interesse am Schach nicht nachgelassen, im Gegenteil: "In der Zwischenzeit nimmt die Leidenschaft für das Schach noch größere Ausmaße an. Er bemerkt in dieser Periode im Tagebuch: ‚Ich spiele Tag und Nacht und nichts interessiert mich mehr auf der Welt, als einen guten Zug zu finden. Die Malerei gefällt mir immer weniger" (20). Noch 1929 wird sich Andrè Breton im Zweiten Surrealistischen Manifest über Duchamps geistige Abwesenheit, verursacht durch die Schachleidenschaft, beklagen, aber auch anfügen, dass dies "vielleicht auch eine seltsame Vorstellung einer Intelligenz gibt, die nicht dazu geneigt ist, zu ‚dienen’", die andererseits aber vom Skeptizismus in großem Ausmaße gequält wird (30).

 

Dass es sich dabei nicht um Bizarrerien handelt, zeigen Duchamps eigene Äußerungen: "An sich ist das Schachspiel ein Zeitvertreib, dem sich jedermann widmen kann – so sagt man. Ich habe es sehr ernst genommen und ich habe es durchdrungen, weil ich eine Ähnlichkeit mit der Malerei entdeckt habe. In der Tat, wenn man eine Partie spielt, dann ist das, als ob man eine Skizze niederschreibt oder eine technische Zeichnung einer Maschine anfertigt, die dich gewinnen oder verlieren lässt. Es ist die ‚plastische’ Seite des Spieles, die mich erobert hat", und andernorts, in einem Brief an Arnsberg: "Ich bin vollkommen bereit ein Schachfanatiker zu werden. Jede Sache um mich herum nimmt die Form eines Springers oder einer Dame an und die äußere Welt hat für mich kein anderes Interesse als die Umwandlung in eine Gewinn- oder Verluststellung" (32f.). Formal mag man Parallelen zu Äußerungen berühmter Schachgrößen ziehen, à la "Schach ist mein Leben" – oder auch zu literarischen Figuren wie Adolf Adolfi, Dr. B. und Czentowics, aber man darf den wesentlichen Unterschied nicht negieren zwischen dem manischen Spiel des durchschnittlichen Großmeisters und dem des Künstlers, selbst wenn viele Schachmeister den Künstlerstatus für sich beanspruchen. Der Unterschied liegt im Akt der Freiheit begründet. Das Spiel des Schachprofis ist nicht (mehr) einem Willen entsprungen und spielt sich nicht (mehr) vor dem Hintergrund der vielen anderen Möglichkeiten ab. Duchamps Äußerung darf also keineswegs als Lob oder gar Rechtfertigung des gemeinen Schachfanatismus missverstanden werden. Pezzutos großes Verdienst ist es, diesen Zusammenhang, das Herzstück der gesamten Auseinandersetzung zumindest angedeutet zu haben: "Es ist ein Akt eines überlegenen Willens, mit dem man sich einfach entscheidet, einen Weg zu verlassen, der sich als zu steril offenbarte. … Das Schach nimmt die Stellung der Malerei ein, das Gebiet auf dem der Künstler Erfolglosigkeit und Frustration erfuhr, schließlich begreifend, wie schwer eine Revolution in der Kunst sei. … Er muss frei schaffen können. Diese Behauptung bringt die Überlegung mit sich, dass man die Nutznießung (fruizione) des Werkes durch das Publikum annulliert" (34ff.).

Schach als "Akt eines überlegenen Willens" und der Freiheit:
Marcel Duchamp und Man Ray spielen auf einem Dach in einer Szene des Films "Entr'acte" von René Clair, 1924

Für die Kunst bedeutet die Entscheidung: Nur wer die Möglichkeit hat sich gegen das Kunstwerk zu entscheiden, so wie es ist oder wie es gewesen wäre, nur der kann Künstler sein, wenngleich dies noch kein hinreichendes Kriterium für den Künstler ist. Die Verweigerung der Kunst durch den wahren Künstler gehört zu den künstlerischsten und metaphysischsten Akten überhaupt. Nur der wirkliche Künstler kann sich gegen die präpotente Macht des Betrachters und Kritikers zur Wehr setzen und dies ist der Grundgedanke und das Dilemma eines jeden Künstlers: der Macht des Publikums, auch dessen Erwartung, der Macht des Anderen, zu entfliehen [3].

Alles was man hat, beeinträchtigt die Freiheit. Sich von etwas befreien, etwas loswerden, bedeutet immer auch einen Schritt in die Unabhängigkeit, denn nur vom Guthaben hängt man wirklich ab, nur der Besitz hindert die Freiheit, weshalb seit Jahrtausenden die größten Denker den unangenehmen Gedanken schmackhaft machen wollten, dass man sich von seinem Wertvollsten zu trennen habe, um tatsächlich glückselig sein zu können. Duchamps Loslösung von der Malerei war nun auch ein Schritt in diese Richtung: "Das Aufgeben der Malerei erlaubte es, sich einer Obsession zu entledigen… Sie sind unendlich, die neuen möglichen Wege…" (36) – dies ist der Effekt der Befreiung psychologisch gelesen: plötzlich scheinen alle Wege offen zu sein und erst wenn man sich für einen entschieden hat, gerät man wieder in die Mühle aus schöpferischer (Un)Befriedigung und Konvention. "Das Schach repräsentiert einen dieser Pfade, jenen in dem die Intelligenz sich in ihrer reinsten Form erheben kann, unkonditioniert" (37) – beginnt Pezzuto zu schwelgen und zitiert, als sei dies ein Beweis die bekannte Duchampsche Äußerung: "Ich bin bereit für die Schlussfolgerung, dass, während nicht alle Künstler Schachspieler, doch alle Schachspieler Künstler sind", die er im Übrigen auf einem Kongress einer amerikanischen Schachgesellschaft tätigte und sicher viel Beifall dafür einheimste. Aber sie macht nach allem Bisherigen wenig Sinn, weil sie ihre eigene Prämisse, die der freien Willensentscheidung vergessen hat und mehr noch, mit ihrem Absolutismus ("alle"), diese fundamentale Grundlage verrät. Es ist mit diesem Wort wie so oft in der Geschichte, die zu einsätzigen Formeln neigt und eindimensionale Repräsentationen fordert (z.B.: Religion ist Opium für das Volk. Oder: Gott ist tot. Oder: ….): es ist das falsche, um Duchamps Verhältnis zum Schach widerzugeben. Zudem fühlt sich eine Spezies geadelt, deren wahrer Verdienst für das Schach längst noch nicht erwiesen ist, die Spezies der Großmeister und Berufsspieler, die das Spiel technisch auf vollkommen neue Höhe getragen haben, aber - das ist die Frage - dessen spirituelle Komponente vollkommen vergessen zu haben scheinen und damit auch die künstlerische.

 

Wir sahen bereits, dass Kunst nur aus der Fülle entstehen kann, aus den unendlichen Möglichkeiten, die einem technisch perfekten Spieler, den man seit seinem sechsten Lebensjahr tagtäglich für das Schach trimmte, nie und nimmer gegeben gewesen sein kann. Der mag zwar Kunstwerke schaffen können, aber ist deswegen noch kein Künstler. Viel eher gleicht er einer Maschine, die ein Programm abspult. Überhaupt ist die Schachpartie nur das Ausloten eines Programms von vorgegebenen und endlichen Möglichkeiten, seine künstlerischen Potenzen sind also von vornherein begrenzt, auch wenn der Akteur das anders empfinden mag [4]. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand der Photographie recht gut verdeutlichen [5]: auch hier glaubt der Photograph an seine Kreativität, wenn er immer wieder neue Blickwinkel, Beleuchtungen, Bildschärfen, Objekte, Filter usw. probiert, tatsächlich aber lotet er nur die Grenzen des Apparates aus, spult ein Programm ab, dessen Rollenverteilung in der Hardware vorgeschrieben sind, verwirklicht er dessen Ziele. So gesehen ist der Photograph der Sklave des Apparates, er kann über dessen Grenzen nicht hinaus solang er als Photograph agiert. Ähnlich ist es mit dem Schachspieler, der die Schranken des Schachprogramms auszuloten versucht und würde man alle bisher gespielten Partien zusammennehmen, wer weiß schon, wie viele der möglichen sinnvollen Stellungen, die das Brett bietet, bereits auf ihm standen? Der Reiz des Schachs liegt so gesehen nur in der für das einzelne menschliche Hirn unerfassbaren Fülle, aber aus einem an-sich-Standpunkt arbeiten wir alle eifrig an der Realisierung der sinnvollen Konstellationen. Es wird das verwirklicht, was potentiell schon da ist.

Hinsichtlich des Kunstcharakters ist damit allerdings erst eine Seite der Medaille beleuchtet, die minimierende. Auf der anderen Seite ist das Schach für die Kunst gerade wegen seiner Enge besonders interessant, da sich die Verwirklichung intensiv gestaltet und daher alles Beliebige weitestgehend ausschließt. Dies mag durchaus Duchamps unausgesprochener Gedanke gewesen sein, dessen nachbildnerische Kunst vor allem, sich extensiv gestaltete, indem sie alles für die Kunst verfügbar machte: wenn das Aufkleben von Gummihandschuhen oder das Aufstellen einer Badewanne im Grünen usw. Kunst ist, dann wird der Begriff des Kunstwerkes unendlich ausgedehnt und von seinen engen Vorstellungen befreit, aber andererseits wird der intensive Gebrauch der Materialien und damit auch der handwerklich vervollkommnete durch einen extensiven ersetzt und ist damit einer prinzipiellen Beliebigkeit ausgesetzt. So könnte man z.B. Dartpfeile auf ein Schachbrett werfen und dies für Entgrenzung der Schachkunst, für Befreiung aus den strengen internen Regeln, erklären. Hält man sich freilich an das enge Regulatorium, so wird die Befriedigung stets eine intensive, eine qualitative und nicht quantitative sein. Womit der Künstler bewusst spielt, ist der Konflikt zwischen Kontingenz und Notwendigkeit.

 

Aber hat Duchamp ein schachliches Kunstwerk auf dem Brett geschaffen, ist eines im allgemeinen Gedächtnis geblieben? Oder müssen wir uns tatsächlich mit dem Paradox zufrieden geben, dass der Künstler ohne Kunstwerk bleibt und die Kunstwerke nicht von Künstlern stammen? Fragen, die sich Pezzuto weder stellt noch beantwortet, auf die das von ihm zusammengetragene Material auch keine Antwort zu geben weiß. Eine Äußerung wie die folgende, zeigt nur, wie wenig klar Duchamps eigene Vorstellungen waren und dass man vielleicht auch einfach überinterpretiert: "Du siehst, dass ich nicht aufgehört habe, Maler zu sein; ich zeichne, in dem ich Hasard (Poker?) spiele" (38). Möglicherweise könnte man dieselbe Geschichte auch für das Hasardspiel schreiben.

Ein Kunstwerk Duchamps?: Partie mit Analyse aus Bulletin No. 67, Fédération Française des Echecs. 1935

Den nachhaltigsten Eindruck auf beide Welten, die des Schachs und die der Kunst, hat Duchamp ohne Zweifel mit seinem "Großen Glas" hinterlassen, seinem Hauptwerk, an dem er zwanzig Jahre gearbeitet hat. Die im linken unteren Teil zu sehenden "neun Jungfrauen" wurden im Auslegungswust auch als Schachfiguren interpretiert bzw. als von Schachfiguren inspiriert. Vor allem aber die 1963 in Pasadena vom Photographen Julian Wasser aufgenommene Serie, hat Weltruhm und permanente Aufmerksamkeit in der Schachwelt erlangt. Auf ihr ist Duchamp vor seinem "Großen Glas" schachspielend, Zigarre in der Hand, zu sehen; im gegenüber sitzt die bis dahin unbekannte vollbusige zwanzigjährige Studentin Eve Babitz. Sexualität und Schach, Duchamps Lebensthemen sind hier intensiv wie nirgendwo bildlich vereint. Eve Babitz hatte übrigens vom Schach keinerlei Ahnung und war enorm aufgeregt, weshalb Duchamp das "erste Spiel in drei Zügen gewann" [6]. Tatsächlich ist auf dem Brett eine Eröffnungsstellung zu sehen (offensichtlich wurde gerade 1. e4 d6 2. d4 Sc6 3. d5 Se4 gespielt; Duchamp scheint zu überlegen, ob er mit 4. f4 den Springer jagt – was bei Anfängern meist zu Fehlern führt -, oder mit 4. Sf3 solide fortsetzt).

Im abschließenden Teil seines Textes kommt Pezzuto - wobei er stellenweise etwas die Kon-tenance verliert - schließlich auf die geistige Verbindung der neuen Kunst mit der neuen Spielauffassung der Hypermodernen Schule zu sprechen, den man hier nur vorzustellen hat. "’Das Große Glas’ hinter sich lassend, kann Duchamp jetzt sich auf eine neue Reise wagen; Ziel ist das Universum, das durch das Schach repräsentiert wird. Das ‚Spiel’ hütet ein unver-wechselbares Mittel zur intellektuellen Befreiung. Dies kann man, ohne Übertreibung, als ein Sciencefictionabenteuer bezeichnen, in dem Marcel, um neue Territorien zu erforschen, die großen Theoretiker der hypermodernen Schachrevolution begleiten …. Tiefgreifend vom Sur-realismus beeinflusst, dringen die Hypermodernen in die Szene ein, mit einem Eifer und einer Überzeugung, die sofort zahlreiche Proselyten anzieht. Bis in ihre Lebensführung hinein tun die Hypermodernen alles, um den Surrrealisten zu gleichen, weichen sie den traditionellen Klischees aus. Tartakower, dessen Bücher wegen der vielen charakteristischen Aphorismen stets eine angenehme Lektüre sind, empörte die Experten als er 1924 in einem Turnier in New York, die Eröffnung 1. b2 – b4 erfand und sie Orang Utan nannte, nachdem er den Zoo der Bronx besichtigt hatte" (43f.). In seinem Furor kommt es dem Autor nicht in den Sinn, zu fragen, ob es sich hier tatsächlich um vergleichbare Größen handelt: ist der (im Übrigen nicht von Tartakower erfundene) Zug 1.b4 ein surrealistisches Kunstwerk? Man kann b4 einfach nur spielen, um eine Partie zu gewinnen, insbesondere dann wenn man mit der Überraschung des Gegners rechnet.

Über Nimzowitsch weiß er dann folgendes zu sagen, noch immer im Ton überschwelgender Begeisterung: "Die theoretischen Grundlagen seiner Schriften offenbaren verschiedene Berührungspunkte mit dem Surrealismus. Eine bildschöpferische, paradoxale und manchmal auch kindliche Sprache nutzend, die voller Witz ist, kündigt Nimzowitsch und seine Weggenossen an, das Schachbrett explodieren zu lassen, den in ihm verwurzelten Dynamismus freilegen zu wollen. Ihr Ziel ist es, die von der Theorie auferlegten Grenzen zu überwinden…" (45). Wenn es tatsächlich Nimzowitschs Ziel gewesen sein sollte, auch ein Sprachkunstwerk mit seinem "Mein System" zu schaffen, so wird man festhalten müssen, dass er zumindest hierin grandios gescheitert wäre, denn was dieses Buch so schwer lesbar macht, ist die nervende und allzu gewollte Art und Weise, wie es geschrieben ist.

 

Wenn Duchamp schreibt: "…die Figuren sind das Alphabet in denen sich die Gedanken ausdrücken. Diese Gedanken, obwohl sie sich auf dem Schachbrett in einer sichtbaren Handlung darstellen, drücken ihre Schönheit doch in einer abstrakten Manier aus, wie in einem Gedicht. So macht das Spiel Diskurs (spricht es), aber einen ideografischen Diskurs", dann glaubt Pezzuto, dass dies "in voller Übereinstimmung mit den Werken Nimzowitschs ‚Hypermodernes Schach" und ‚Praxis meines Systems’" (46) geschehen sei.

"Die Hypermodernen bedauern, dass das Schach aufgrund der Entwicklung der Theorie sich in einen immer gigantischeren Apparat, ein unfruchtbares, ödes Universum, ohne Kreativität entwickelt habe. Tartakower bestätigt dies: ‚Einst spielte man Schach, jetzt spielt man Variante’" - ist dies nicht heutigentags wieder so, trotz der hypermodernen Revolution? - "Ihre Aufgabe ist es also zu zeigen, dass es hier noch großen Freiraum für die Phantasie, die Vorstellungsfähigkeit und die Willenskraft gibt. Ohne diese Instrumente kann man auch keine Möglichkeit für ein kreatives Voranschreiten des Spiels schaffen. Und daraus folgt auch, dass während jede Partie gespielt wird, man versucht, das Maximum von sich selbst zu geben. Diese Verpflichtung wird von nun an zum kategorischen Imperativ der ‚Neoromantiker’… Die Mission, die die Neoromantiker zu lösen hatten, wird von Duchamp voll und ganz geteilt und sie verflicht sich mit dessen künstlerischen Problemen. Das Grundproblem ist jenes, das schon hinsichtlich der Malerei sichtbar wurde; im Schach alle Kreativität zu befreien die im menschlichen Geist enthalten ist. Und dies versuchte er zu schaffen, in dem er alle verfügbare Energie aufbringt.

Duchamp war sicherlich ein Hypermoderner dem Stile nach, wie Eduard Lasker bezeugt, der ihn als ‚starken Spieler’ bezeichnete, ‚einen Meister unter den Amateuren und ein wunderbarer Gegner. Gewöhnlich riskierte er lieber viel, nur um einer schönen Partie neues Leben einzuhauchen, anstatt vorsichtig zu spielen um nur den einfachen Gewinn zu erreichen’" (46ff.).

"Das große Glas".
Die im linken unteren Teil zu sehenden "neun Jungfrauen" wurden auch als Schachfiguren interpretiert.

Es ist zu bezweifeln, ob sich aus derartig allgemein gehaltenen Äußerungen im Stile eines gutgesinnten Nachrufs, tatsächlich die Zugehörigkeit zu einer theoretischen Spielauffassung nachweisen lässt. Wirklich interessant und waghalsig werden Pezzutos Gedanken, wenn er auf die ästhetische Auffassung Duchamps zu sprechen kommt.

Ausgangspunkt ist erneut die alte Streitfrage, worum es sich beim Schach handele: Sport, Wissenschaft oder Spiel und Kunst, eine Frage, deren Sinnhaltigkeit längst noch nicht entschieden ist, die Duchamp aber ganz eindeutig beantwortet, selbstredend im Sinne der Kunst. "Duchamp, nachdem er sehr viel gespielt hat und an zahlreichen Turnieren teilnahm, kommt schließlich zu dem Schluss, am Spiel den rein spielerischen Aspekt hervorzuheben und den agonistischen zu brandmarken. … Sein neues Ziel wird durch die nichtkonkurrierende Schachpartie gekennzeichnet sein; jener, in der der Gegner absichtlich beseitigt wurde, ‚evakuiert', um eine ihm liebe Ausdrucksform zu wählen, weil dieser ‚keine weitere Bedeutung mehr hat'. Dies ist für Duchamp das einzige Mittel, um den sich ausschließenden Gegensatz von Weiß und Schwarz ins Eine zurückzuführen, wobei er jene "chymische Hochzeit" zwischen Bruder und Schwester realisiert, die seine nichtrealisierten Bemühungen des "Großen Glases" charakterisierten" (52).

Ob dem tatsächlich so ist, ob man ein bildnerisches Kunstwerk wirklich eins zu eins in eine Schachpartie übertragen kann und ob Duchamp die hier mit leichter Feder apostrophierten Niveauverschiebungen akzeptiert hätte…, das alles muss offen bleiben und wird vielleicht an anderer Stelle wieder aufgegriffen werden. Pezzutos Gedanken sind faszinierend, keine Frage, gehen aber in diesen abschließenden Teilen die Gefahr ein, als bloße Spinnerei, als freie Assoziation und flottierende Bedeutung abgestempelt zu werden. Es ist immer suspekt, ein paar geheimnisvolle Andeutungen zu machen und dann den Leser damit allein zu lassen, so als sei eigentlich alles gesagt und Unklarheitern seien dem Unverständnis auf der Rezipientenseite zu schulden. Selbiges - nicht zuletzt hinsichtlich der Brisanz - gilt auch, wenn der Autor zum letzten Mal auf die direkte Beziehung dieser "Ästhetik" zur hypermodernen Schule eingeht und, unausgesprochen zur existentialistischen Philosophie und deren neostrukturalistischen Nachfolger, für die das Problem des "Anderen" stets die Hauptaufgabe des Denkens stellte [7]. Demnach standen die hypermodernen Meister einer utilitaristischen Spielauffassung vollkommen fremd gegenüber. "In anderen Worten: der Fehler des Gegners, der die Tür zum Gewinn aufstößt, wurde mehr gefürchtet als die eigene Niederlage, denn in ihm repräsentierte sich ein inakzeptabler Makel in der Ökonomie des eigenen Gedankengebäudes. Das so entworfene Schach riskiert emporzusteigen, um die die tragischste aller Künste zu werden, da der Spieler im Schaffensprozess abhängig von einem externen Element wird, das außerhalb seiner Willenssphäre liegt: dem Gegner. Die Perfektion der gedanklichen Architektur, die der neoromantische Spieler versucht zu erreichen, ist bedroht, in jedem beliebigen Moment, abhängig von dem, was der Gegner macht. Es liegt in letzter Instanz an ihm, ob er das größte Vergnügen - nicht als Sieg, sondern als Kunstwerk - erlaubt oder negiert" (50f.). Der vermeintliche geistige Befreiungsakt führt zur Versklavung seiner selbst und zur Abhängigkeit durch den anderen.

(Ferruccio Pezzuto: La Partita di Duchamp. Brescia 1994)

 

Band 4 der "Messaggerie Scacchistiche" beschäftigt sich mit dem Schach im Film, geht aber über eine bloße Nennung und Inhaltsangabe nicht hinaus.

Ettore Ridola: Mosse pericolose. Gli Scacchi in cent'anni di cinema. Brescia 1995


 

--- Jörg Seidel, 04.12.2002 ---


[1] Sylvester, David: Gespräche mit Francis Bacon. München/New York 1997. S. 61
[2] Leider kenne ich Ernst Strouhals "Duchamps Spiel" Wien 1994 nicht; das Buch ist leider nicht mehr aufzutreiben.
[3] vgl.: Jörg Seidel: Ondologie Fanomenologie Kynethik. Essen 1999. insbesondere S. 49-55 und 151-160
[4] vgl. zur Problematik George Steiner
[5] das Beispiel stammt, wenn ich mich recht entsinne, von Jean Baudrillard
[6] Calvin Tomkins: Marcel Duchamp. Eine Biographie. München 1999. S. 493
[7] vgl. exemplarisch Levinas


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