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Schachbotschafter I:
Philidor
Gäbe es – vergleichbar dem
Friedensnobelpreis – einen Preis dafür, der
Idee des Buches am besten zu widersprechen, die von
Ferruccio Pezzuto geleitete Reihe "I Corti di Scacchi"
("Die Kurzen des Schachs") wäre ebenso
ernsthafter Herausforderer wie Bush und Blair, die Friedensengel,
in Stockholm. Gemäß der Volksweisheit "Mehrere
Blätter machen ein Buch", wurden Mitte der
90er Jahre vom Verlag "Messaggerie Scacchistiche",
der im Übrigen die bedeutende Zeitschrift "Torre
e Cavallo" herausgibt, vier Bücher (einigen
wir uns darauf, als Arbeitstitel) herausgebracht, die
sich mit schachlichen Randthemen beschäftigen.
Aber wie viele Seiten machen ein Buch? Da scheint es
nach unten keine Grenze zu geben, besagte Bücher
jedenfalls zeichnen sich, neben der attraktiven und
soliden Aufmachung, dem dicken und festen Papier, den
großen Buchstaben und komfortablen Zeilenabständen
und dem gesalzenen Preis, eben durch ihre effektive
Prägnanz aus. Stimmt das Sprichwort: Große
Bücher – Große Narren? Die Umkehrung
jedenfalls scheint nicht ganz problemlos aufzugehen.
So ein Konzept kann nur als Luxus oder
vor dem Hintergrund eines echten Bedürfnisses funktionieren
und letzteres zumindest dürfte wohl vorhanden sein,
denn was da thematisiert wird, zählt ohne Zweifel
zu den weit unterbelichteten Bereichen der Schachwelt.
Vor allem muss hervorragende Qualität die Kürze
kompensieren. Die Frage ist, ob ein Text vom Umfang
eines mittleren Leitartikels auf Buchform getrimmt –
was ihn freilich auch nicht länger macht –
diese Belichtungsdefizite wird reduzieren können?
Im Falle des ersten Titels der Reihe, der sich mit "Philidor:
der Musiker, der Schach spielte" beschäftigt,
lässt sich das ziemlich klar mit "Nein"
beantworten. Nicht, dass es ein schlechtes Buch wäre,
was der Turiner Musikhistoriker Corrado Rollin da geschrieben
hat, das nicht, aber es leistet fast nichts über
jenes hinaus, was andere vor ihm zum Thema schon geleistet
haben. Dies zumindest gilt für die schachrelevanten
Aussagen. Was da an Information, an Fakten, geboten
wird, lässt sich in jedem besseren Lexikon nachlesen
– etwa in Lindörfer oder im Sunnucks - und
ist wohl, wenn man sein Literaturverzeichnis nicht vollkommen
missversteht, im Wesentlichen von Schonberg (dt. Ausgabe:
Die Großmeister des Schach. Berlin/München/Wien
1974, S. 27-35) abgeschrieben.
Philidor ist eben so ein typischer Fall,
an dem sich die negative Arbeitsweise der tradierten
Geschichtsschreibung exemplarisch nachvollziehen lässt;
irgendwann hat sich da mal einer die Mühe gemacht
zu forschen, hat eine Dissertation verfasst, die mittlerweile
aber verschollen ist (vgl. S. 69) [1]
und von der ausgehend, über 12 Ecken, pinselt dann
einer vom anderen ab, meist ohne Literaturverweis. Man
liest dann allenthalben dasselbe, allein stilistische
Eigenheiten der "Autoren" machen noch die
Differenz. Die arme naive Wissenschaftlerseele am Anfang
der Nahrungskette ist vergessen, wahrscheinlich war
der Text "zu akademisch" um gelesen zu werden
oder er versäumte in seiner Selbstlosigkeit einfach
sich an große Schachverlage zu wenden, statt es
als Xerokopie in dreifacher Ausführung in einer
Universitätsbibliothek in den Staaten "der
nagenden Kritik der Mäuse" auszuliefern. Ohne
eigene Forschung, ohne die nervenaufreibende Arbeit
in den Archiven und Bibliotheken, auch ohne den musikwissenschaftlichen
Hintergrund, ist bei Philidor eben nichts mehr Neues
zu machen und wahrscheinlich erst recht nicht auf 50
Seiten, die eigentlich nur 5 sind. Daran ändert
auch nichts, wenn man, wie Rollin, einen interessanten
Spannungsbogen aufzuziehen versucht: "Der Mensch
Philidor ist schließlich von besonderem Interesse
wegen seiner Ambivalenz und man muss sich zumindest
fragen, ob das Interesse am Schach nicht den Komponisten
zerstreut habe und umgekehrt" (56), wenn er nicht
mit antwortgebendem Material gefüllt wird. Man
macht sich es dann immer leicht zu konstatieren: "Übrigens,
viel untersuchende Arbeit muss noch geleistet werden
und es mangelt einer umfassenden Untersuchung zu diesem
Manne" (57). Na dann, Herr Rollin, frisch ans Werk:
wenn schon ein Buch schreiben, dann aber richtig und
nicht nur versprechen und auf andere hoffen.
Man kann schließlich darauf verzichten,
all das schon Bekannte erneut zu rekapitulieren: Philidors
Herkunft aus einer Musiker-Dynastie, sein Leben in Paris,
Amsterdam, London, die spektakulären Blindschachpartien
und die musikalischen Erfolge und Rückschläge,
die Freundschaft mit Diderot und dessen legendären
Brief, das vereinsamte und verarmte Sterben und all
dies – das alles findet sich, wie gesagt, überall,
wo sich zu Philidor überhaupt was findet (z.B.
im viel besseren Buch von Susanna
Poldauf: Philidor. Eine einzigartige Verbindung von
Schach und Musik). Die zwei, drei musiktheoretischen
und recht plakativen Einschätzungen einiger Werke
sind etwa genauso belanglos - da von keinerlei empirischem
Material begleitet – wie die folgende schachliche:
"Aus schachlicher Sicht, jenseits des rein technischen
Wertes seiner Theorie, vereinigt Philidor in sich alle
Charakteristik der Spielweise des 18. Jahrhunderts"
(55) und auch das haben Euwe oder Opfermann schon pointierter
ausgeführt.
Dabei ist doch das Zusammenspiel von
Schach und Musik theoretisch so außergewöhnlich
energiegeladen, dass man vor allem von einem Musikwissenschaftler
hierzu zündende Aussagen regelrecht fordern darf;
aber nichts dergleichen, was überhaupt zu dieser
Beziehung kommt, stammt von Philidors Zeitgenossen,
die sich redlich den Kopf darüber zerbrachen, und
zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kamen, ob er denn
nun der bessere Schachspieler oder der bessere Musiker
sei, als ob man das unvorausgesetzt miteinander vergleichen
könnte. Immerhin hat sich der Verfasser hier die
Mühe gemacht, in der französischen Literatur
einige namhafte Zeitgenossen ausfindig zu machen, die
sich, mehr oder weniger signifikant, zu Philidor äußerten:
Voltaire und Diderot, Melchior von Grimm und Sainte-Beuve,
auch Rousseau und die Brüder Concourt gehören
noch zu den besten Fundstücken eines an sich überflüssigen
Buches. Man hätte "den Kurzen" einen
besseren Start gewünscht.
(Corrado Rollin: Philidor: il musicista che giocava a scacchi. Brescia 1994. 71 Seiten)
--- Jörg Seidel, 06.11.2002 ---
Lesen Sie weiter bei: "Schachbotschafter
II: Thomas Henry Buckle"
[1]
z.B.: Charles Michael Carroll: Philidor. His Life and
Dramatic Art. Florida State University. Tallahassee
1960 oder: Francis Magee: A.D.Philidor. His Life in
Pictures and Stories. Lincoln Center New York
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