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Aufstieg und Fall des Jeffrey Archer
The true fascination
of Jeffrey Howard Archer lies in what his career tells
us about the people and institutions around him.
Michael Crick [1]
Where There's
a Will
Jeffrey Archer [2]
Jeffrey Archer gehört zur kleinen
Gruppe jener Menschen, die aus Stroh Gold machen können
– und aus Gold Stroh!
Man kann seine Biographie als
Märchen erzählen:
Ausgebildet an der Eliteuniversität
Oxford (Brasenose College), erlangt er erstmals landesweiten
Ruhm, als es ihm gelingt für das Wohltätigkeitsunternehmen
Oxfam 1 Mio. Pfund (nach heutigem Maßstab
wären das fast 10 Mio.) zu sammeln; sensationellerweise
kann er die Beatles für dieses Projekt gewinnen.
Oxfam, heute in ganz England allgegenwärtig,
begann damit seinen eigentlichen Aufstieg.
Jeffrey Archer (rechts)
sammelt für Oxfam zusammen mit den Beatles
In Oxford wird Archer auch einer der
besten Sprinter des Landes, er gehört zu den gefragten
"Oxford Blues" (der offiziellen Athletikmannschaft
der Uni), er läuft sogar für die Nationalmannschaft.
Später führt er den Oxford University Athletics
Club als Trainer zu einem historischen Erfolg im
prestigeträchtigen Zweikampf mit Cambridge. Er
lernt eine der gescheitesten (und hübschesten)
Studentinnen des Landes kennen und heiratet sie wenig
später: Mary Weeden, "the catch of the
generation", der man eine glänzende akademische
Karriere voraussagte. Nach Studienabschluss widmet er
sich der Politik und gewinnt mit überzeugender
Mehrheit einen Sitz im Unterhaus (MP im House of Commons),
dessen jüngstes Mitglied er wird. Zeitgleich verdient
er als Unternehmer und Börsenspekulant seine erste
Million. 1976 schreibt Archer sein erstes Buch und wird
umgehend zum Bestsellerautor. Nachfolgend verkauft sich
jedes seiner Bücher millionenfach, die Gesamtauflage
wird auf über 150 Mio. geschätzt, womit Archer
weltweit zu den meistverkauften zeitgenössischen
Autoren zählt. Margaret Thatcher beruft ihn zum
Deputy Chairman der Tory-Partei. Mit Unterstützung
seines persönlichen Freundes John Major erlangt
Archer den Adelstitel und wird "Baron Archer of
Weston-super-Mare of Mark in the County of Somerset".
Ein neuer politischer Triumph bahnt sich an, als er
1999 mit guten Gewinnaussichten für den Londoner
Bürgermeisterposten kandidiert
So zumindest liest sich Archers illustre
Geschichte, wenn man ihm zuhören würde. Fragt
man hingegen den Mann auf der Strasse, so wird man mit
höchster Wahrscheinlichkeit den Satz zu hören
bekommen: He is a notorious liar (er ist ein
unverbesserlicher Lügner). Die wahre Geschichte,
wie sie z.B. Crick erzählt, weiß einiges
hinzuzufügen:
Der junge Archer versuchte sich vergebens
in mehreren Karrieren, z.B. als Militärkadett oder
Polizist, er scheiterte jedes Mal an der erschreckenden
Aussicht auf langsamen Progress. Er wird, trotz
fehlender Qualifikation, Lehrer, erschleicht sich den
Zugang zur Universität, in die er nie als richtiger
Student eingeschrieben ist und auch keinen Abschluss
macht, sondern wo er "Forschungen betreibt".
Sein Erfolg mit Oxfam, wobei er die Beatles eher überrumpelt
und übertölpelt statt überzeugt hatte,
wird überschattet von Selbstbereicherungsvorwürfen.
Zwar puscht Archer sich wie besessen zu einem Leistungssportler,
der an der Uni gute Resultate erzielt, doch weder gelingt
es ihm zur nationalen Spitze vorzudringen noch war er
überhaupt berechtigt als Oxford Blue anzutreten,
und an einem Länderkampf nimmt er nur einmal teil,
als in der Nachsaison eine B-Mannschaft nach Schweden
geschickt wird, um deutlich zu verlieren. Die glückliche
Ehe mit der faszinierenden Mary wird zudem von Affären
überschattet. Die vielversprechende Chemikerin
verzichtet weitestgehend auf eine eigene Karriere zugunsten
ihres Ehemannes. Ins House of Commons gelangt
Archer 1969 tatsächlich sehr jung, doch kann seine
Behauptung, das jüngste Mitglied gewesen zu sein,
den Tatsachen nicht standhalten (vier andere MPs
waren vor ihm in jüngeren Jahren dort [3]). Die riskanten
wirtschaftlichen Unternehmungen zeitigen nur kurzfristigen
Erfolg, stets unterhalb der vielbeschworenen ersten
Million, und stehen zudem im Verdacht durch Insiderhandel
zustande gekommen zu sein. Schließlich führen
sie zum finanziellen Ruin. Hochverschuldet muss Archer
seine junge politische Karriere an den Nagel hängen.
Um die schwierige finanzielle Situation zu lösen,
beschließt das Energiebündel mit den mittelmäßigen
Schulzensuren und einer Schreibschwäche, Bestseller
zu schreiben und hat – wunderbarerweise –
Erfolg! Endlich verdient er die langersehnte Million
und noch einige dazu. Nun wird er wieder gesellschaftsfähig.
Freilich verschweigt er, dass es sich beim Posten des
Deputy Chairman der Tories um einen inoffiziellen und
ehrenamtlichen Job handelt, der lediglich dazu dient,
dem überarbeiteten Chairman Handlangerdienste zu
leisten.
John Major verleiht
Archer die Peerswürde
Deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit
wird Archer wenig später in einem undurchsichtigen
Prostituiertenskandal erlangen. Dieser bringt ihn erneut
zu Fall, auch wenn ihm ein Gericht wenig später
in einem Verleumdungsprozess Recht gibt. Sein Nachfolger
auf dem politischen Schleudersitz ist kein anderer als
Michael Dobbs [4].
Archers dritter Anlauf, nach langer politischer Abstinenz,
kommt erneut zum Scheitern, als 13 Jahre später
eine neue Zeugenaussage ihn des Meineids (perjury) überführt:
er wird zu 4 Jahren Haft verurteilt, von denen er 2
Jahre absitzen muss. Im Juni 2003 kommt er frei und
macht sich seitdem für die Rechte der in Großbritannien
einsitzenden Häftlinge stark.
Man kann Archer als "accident
waiting to happen" charakterisieren, als macht-
und geldgierigen Gauner oder aber als hochambitionierten,
erzehrgeizigen, effizienten Energiemenschen, als Inkarnation
der Redensart "Wo ein Wille ist, da ist ein Weg".
Zumindest auf einem Gebiet hat Archer
letztere Einschätzung beeindruckend bewiesen: als
Autor.
Bücher
Verursacht durch den Kollaps seiner riskanten
Unternehmensspekulationen gelangt Archer Mitte der 70er
Jahre an den Tiefpunkt seiner Rollercoaster-Karriere.
Gerade noch ein aufstrebender Lebemann, plagen ihn quasi
über Nacht Schulden in enormer Höhe, genug
um einen Menschen zu brechen. Nicht aber diesen. Einzig
und allein des Geldes wegen entschließt sich der
Selfmademan dazu "einen Bestseller zu schreiben"
und lässt sich von dieser scheinbar wahnwitzigen
Idee auch nicht durch Gelächter und Warnung abbringen.
Stattdessen zieht er sich zurück und schreibt,
die soeben erlebte Pleite literarisch verarbeitend,
"Not A Penny More, Not A Penny Less",
eine amüsante Happy-End-Geschichte einer ideenreichen
Revanche vier geprellter Investoren in eine "todsichere"
Ölaktie. Wie alle Archer-Bücher, so braucht
schon sein Erstling eine Menge lektorale Nachbesserung,
aber am Ende steht ein lesenswertes Buch, das, vielleicht
auch mit Hilfe des Namens, vor allem aber wegen der
unermüdlichen Eigenwerbung, sogleich beachtlichen
Erfolg hat. Es überzeugt weniger durch schriftstellerische
Meisterschaft, wenngleich es einen ansprechenden Plot
und eine flüssige Feder aufweist, als durch die
Zielstrebigkeit und Willenskraft seines Autors, der
nie zuvor auch nur literarisches Talent oder Hingabe
sehen ließ. Angespornt durch den Erfolg gönnt
sich Archer kaum eine Pause und bringt bereits im Jahr
darauf, 1977, sein zweites Buch auf den Markt: "Shall
We Tell The President". Was kümmert es,
dass die Idee ein bisschen zu auffällig Frederick
Forsyths "The Day Of The Jackal" gleicht;
die dramatische Geschichte des in letzter Sekunde vereitelten
Mordversuches an der ersten amerikanischen Präsidentin
offenbart Archers tatsächliche schriftstellerische
Stärke, die Kunst, spannend erzählen zu können.
Aber auch eine seiner größten Schwächen:
das Konstruieren zu vieler unglaubwürdiger Zufälle.
Freilich, in suspense stories wie dieser mag
man das verzeihen.
Nachdem der gescheiterte Geschäftsmann
und Politiker nun doch noch die Bonanza fand, hätte
man vermuten können, er würde nun fleißig
schürfen, aber Archer wäre nicht Archer, wenn
er selbst im Erfolg nicht nach Höherem strebte.
Frühestes Produkt dieses unersättlichen Ehrgeizes
ist der Wälzer "Kane And Abel"
(1979), der ganz offensichtliche Versuch, einen Entwicklungsroman
großen Stils, ein Meisterwerk ersten Ranges zu
verfassen. Die Legende will es, dass Archer vor Freunden
vom Literaturnobelpreis träumte. Das dickleibige
Buch beginnt vielversprechend; insbesondere Abel Rosnovskis
Kindheits- und Jugenderlebnisse sind nicht nur beeindruckend
und bleiben lange im Gedächtnis, sie sind handwerklich
auch solide gearbeitet und hätte der Möchtergern-Nobelist
die Kraft gefunden nach 220 Seiten aufzuhören,
er hätte einen weiteren Meilenstein in der kommerziellen
Literatur geschaffen, dem man leicht auch den Ideenklau
bei Solschenizyn, Dumas, Margaret Mitchell und Ian Fleming
verziehen hätte. Leider offenbart sich in "Kain
und Abel", das man oft als "Hauptwerk"
Archers bezeichnet und das unerklärlicherweise
tatsächlich seinen literarischen Durchbruch brachte,
Archers Überambition, ein großer Schriftsteller
zu werden, der sich mit Scott Fitzgerald, Sinclair Lewis
oder sogar Theodor Dreiser (vgl. S. 207) messen könne,
ohne zu realisieren, dass ihm dazu, zum ausschweifenden
Erzählen, zum subtilen Charakterisieren, zum farbigen
Stimmungsmalen, jegliches Talent fehlt! Warum nur genügte
es ihm nicht, ein neuer Dumas zu werden? Je mehr das
Opus zur Businessgeschichte verkommt, je mehr es Einfühlungsvermögen
und künstlerische Klasse brauchte, langsame Handlungslinien
befriedigend zu entwerfen, um so dünner wird das
Ganze und grenzt nach vier-, fünfhundert Seiten
fast ans Ungenießbare. Zunehmend strotzt das Buch
von krassen Unglaubwürdigkeiten, reizlosen Bildern
und zahllosen Wiederholungen. Zumindest in einem gleicht
das "Hauptwerk" Mitchells "Vom Winde
verweht", als es immer neue klischeetriefende und-dann-Geschichten
produziert; deutlich ein Zeichen dafür, dass dem
schnelllebigen Quirlgeist der Atem ausging. Die Schilderung
des jahrzehntelangen Kampfes zwischen Abel Rosnovski,
einem vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Typ,
und William Kane, dem Erbe eines Bankenimperiums, bleibt
aufgrund des zweiten Teils, den zweiten 300 Seiten,
leider literarisch wertlos.
Mit "A Quiver Full Of Arrows"
(1980), dem ersten Kurzgeschichtenband, bäckt Archer
wieder kleinere Brötchen und das tut seiner Schreiberei
sichtlich gut. Keine einzige der zwölf Erzählungen
kann als wirklich misslungen gelten und einige darunter
sind kleine Juwelen. Sie alle sind flott erzählt,
geistreich, witzig und gelegentlich auch erotisch, sie
zeigen erneut deutlich auf, wo Archers Reserven liegen.
Seine handwerklichen Fähigkeiten sind sicherlich
begrenzt, aber eine lebhafte Phantasie und die innere
Energie, die auch sein Schreiben ausstrahlt, schafft
es immer wieder auf der Inhaltsebene in den Bann zu
ziehen, d.h. was da passiert, ist immer wieder –
zumindest zu diesem frühen Zeitpunkt - lesenswert,
weniger wie es dargestellt wird. Dazu gehört
auch jene nette Geschichte vom Backgammon-Weltmeister,
der in der Klubmeisterschaft nicht gewinnen konnte,
die gut und gerne auch als Schacherzählung hätte
funktionieren können.
Es kann nun kaum noch eine (böse)
Überraschung sein - hat man das Achterbahnprinzip
Archers begriffen, die seltene Fähigkeit, mit dem
Hintern einzureißen, was die Hände geschaffen
haben, um es dann in der Zirkellogik wieder aufzubauen
- dass Archer zwei Jahre darauf erneut mit einem 500
Seiten-Klopper aufwartet, in dem er die magere Geschichte
um "Kain und Abel" weitererzählen will,
leider substantiell wesentlich dünner. In "The
Prodigal Daughter" wird der Werdegang von Rosnovskis
Tochter verfolgt, auf ihrem Weg zur ersten US-Präsidentin
(dieselbe, die in "Shall We Tell The President"
erschossen werden sollte). Dabei begeht er aber nicht
nur dieselben Fehler wie in besagtem "Hauptwerk",
nein, er verstärkt sie noch. Derartige Geld- und
Erfolgsstorys sind nicht nur sterbenslangweilig, sie
sind auch amateurhaft zusammengeschrieben, unsäglich
aufgebläht und von zahllosen banalen Dialogen geprägt
(kurz: es ist das erste Archer-Buch, das ich nicht beenden
konnte). Ein solches Machwerk ist eigentlich genug,
um die Reputation eines Autors dauerhaft zu schädigen,
steht da aber in dicken Lettern "ARCHER" drauf
und ist es von Marketingkünstlern effektvoll lanciert
und bietet es sich marktschreierisch dem US-Markt an
und wird es von einer übermenschlichen Energie
promoted, dann freilich kann selbst ein solches Produkt
zum "Number One Bestseller" werden.
Mit "First Among Equals"
kommt Archer 1984 zurück, einem, in seinem engen
Spektrum, einmaligem Buch. Darin verarbeitet er seine
erste politische Pleite. Das Buch ist also sowohl aus
biographischer Sicht von Interesse als auch als Einblick
ins politische und seelische Innenleben der britischen
Gesellschaft. Politik wird hier vielmehr als Spiel und
Sport begriffen, als Beschäftigung, denn als Beruf,
wie in Deutschland. Nur so lässt sich das einmalige
Phänomen erklären, dass hochrangige Politiker
wie Archer, Michael Dobbs oder Douglas Hurd sich nach
oder während ihrer Karriere zu Bestsellerautoren
mausern, die vergleichsweise schamlos ihre parlamentarische
Erfahrung in Auflagentantiemen ummünzen. Politik
wird weniger als Schachspiel dargestellt, sondern als
ein Pferderennen oder Roulettespiel mit Wetteinsatz,
auf jeden Fall ein Glücksspiel: das entlastet die
Figurenverantwortung und nimmt der politischen Entscheidung
den belastenden Schicksalscharakter, der die deutsche
Politikszene so oft beschwert. In unserem Falle merkt
man dem Buch wohltuend an, dass sein Verfasser wieder
was zu sagen hat und nicht um den amerikanischen Markt
buhlt (was könnte die amerikanische Öffentlichkeit
mehr langweilen, als britischer Parlamentarismus oder
irgendein anderer europäischer, for that matter?):
es ist relativ flüssig geschrieben, auch wenn es
mit der monoton wechselnden Viererperspektive etwas
einfallslos konstruiert scheint – Archer hat seine
literarischen Lektionen ganz offensichtlich bei John
Dos Passos (oder einem seiner zahlreichen Nachfolger)
und dessen Versatztechnik genossen, ohne freilich dessen
Virtuosität auch nur annähernd zu erreichen.
Politik wird darin viel mehr als Knochenarbeit denn
Intrigantentum dargestellt, mit zahlreichen witzigen
Momenten; insofern ist es der zynischen Sichtweise Michael
Dobbs vorzuziehen. Ganz nebenbei, das mag besonders
für den deutschen Leser interessant sein, lässt
er die wesentlichen Passagen der jüngeren britischen
Geschichte Revue passieren: die Heath-Ära, die
Thatcher-Ära, der Falklandkonflikt, der EU-Beitritt
Großbritanniens, das IRA-Phänomen etc. Wahrscheinlich,
wollte man es zusammenfassen, vereinigt dieses Buch
am deutlichsten Stärken und Schwächen des
Verfassers: Archer in a nutshell. Genau besehen handelt
es sich um eine zweite Novellensammlung, die durch einen
roten Faden – die vier Protagonisten, aufsteigende
Jungpolitiker aus verschiedenen politischen Lagern –
verbunden sind.
Erst mit "A Matter Of Honour"
(1986), einem Geheimdienstthriller um die Ikone des
Zaren, schuf Archer wieder einen wirklichen page-turner.
Dieses Buch hat alles, was ein Thriller braucht; man
gewinnt damit keinen Nobelpreis, aber Millionen, in
Dollar und Fans. Es zeichnet sich durch zahlreiche überraschende
Wendungen aus, ohne Zweifel eine weitere Stärke
Archers: überraschen zu können.
Zwei Jahre später macht er sie zum
Programm mit "A Twist In The Tale",
der zweiten Kurzgeschichtensammlung, die leider nicht
mehr ganz so frisch und überzeugend wirkt, möglicherweise
auf erste Verschleißerscheinungen hinweist, ein
Problem, unter dem fast alle folgenden Werke leiden.
Trotzdem: wie Archer fast schon routiniert Spannung
erzeugt, wie er immer wieder das Unerwartete geschehen
lässt, das erweckt noch immer Bewunderung und lässt
in den besten Fällen an Somerset Maugham erinnern,
manchmal, wie man noch sehen wird, zu deutlich. Demjenigen
Leser, der den literarischen Werdegang bis hierher verfolgte,
muss freilich aufstoßen, das meiste – sowohl
hinsichtlich des Aufbaus als auch der Themen –
schon einmal gelesen zu haben. Archer gingen offensichtlich
auf dem Höhepunkt seiner Schriftstellerkarriere
die Mittel und Ideen aus, mehr und mehr wirken die Bücher
altbacken und aufgewärmt
Das gilt weniger für den Wälzer
"As The Crow Flies" von 1991, der noch
immer beeindruckenden Geschichte Charly Trumpers, der
es, wie einst Abel, sprichwörtlich vom Tellerwäscher
zum Millionär schafft, denn in diesem voluminösen
Roman scheint Archer erstmals das Genre der epischen
Erzählung annähernd zu meistern, die typischen
und unausrottbaren Schwächen freilich mit inbegriffen.
Vor allem beschreibt sich Archer, deutlich wie nie zuvor,
selbst: den ewigen Energiemenschen mit nie zu sättigenden
Ambitionen. Dieser Übermensch ist stets lernwillig,
anpassungsfähig und steht immer etwas früher
auf als alle andern. Ein Rezept, das in einer imaginierten
Welt von nur guten und nur bösen Menschen restlos
aufgehen mag, allein Archers Biographie zeigt dessen
Fiktionalität. Meiner Meinung nach ist dies sein
ambitioniertestes Buch, weit besser als "Kain und
Abel", nicht zuletzt weil viel vom Gewäsch,
von den unglaubwürdigen Zufällen, von Wiederholungen
etc. weggelassen wurde, ohne freilich ganz darauf zu
verzichten. Auch stilistisch betritt Archer – innerhalb
seines engen Spektrums – Neuland; insbesondere
der Versuch des Perspektivenwechsels – es treten
mehrere Erzähler auf -, verleiht dem Buch eine
gewisse Frische. Aber es bleibt dabei: Archer ist kein
Künstler von Rang, er kann gute Leseerlebnisse
schaffen, aber keine große Literatur. Nicht zuletzt,
weil er kein Stamina besitzt, weil er zu ungeduldig
ist; der Anfang in dieser Art Saga-Bücher ist immer
besser als das Ende, das meist aus öden Aufsichtsratssitzungen,
Übernahmen und Börsenspekulationen besteht.
Um den Leser bei der Stange zu halten nutzt er den billigen
Trick, spannungsgeladene Entscheidungssituationen, wie
Wahlen oder Auktionen, ausführlich zu schildern.
Das gilt auch noch nicht für "Honour
Among Thieves" (1993), vielleicht Archers bestem
Thriller, die dramatische Odyssee der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung, von Saddam Husseins
Schergen zum Zwecke der öffentlichen Demütigung
aus den Bibliothekskatakomben Washingtons gestohlen,
und ihre wundersame Rettung. Die Story gewinnt glücklicherweise
an Plausibilität vor dem Hintergrund der neueren
Ereignisse im Irak. Ein Buch, das regelrecht nach großer
Verfilmung schreit!
Das gilt sehr wohl jedoch für Archers
dritte Novellensammlung, die dem bislang Geleisteten
kaum etwas hinzufügen kann. In "Twelve
Red Herrings" gibt es noch zwei, drei geradlinige
reizvolle Erzählungen (insbesondere "Do Not
Pass Go" überzeugt), es gibt auch die gelegentliche
"nette Geschichte", aber das ändert am
Gesamteindruck wenig, der nun in aller Deutlichkeit
suggeriert, dass Archer als Autor ausgebrannt ist. Selbst
dort, wo er eine interessante Idee probiert – nämlich
eine Begebenheit mit vier verschiedenen möglichen
Ausgängen zu versehen -, ist die Basishandlung
derart lau und langweilig, dass man sich schwerlich
bis zum Ende durchquälen kann. Nur ein einziger
bemerkenswerter Gedanke sticht hervor, eben weil er
zeigt, wie sehr Archer von seinen Erfolgsmitteln weiß:
"
that however talented an artist might
be, it was industry and dedication that ultimately marked
out the few who succeeded from the many who failed"
(263).
Mit "The Fourth Estate"
(1996) hätte der Verschleiß nun auch dem
fanatischsten aller Archer-Fans (das ist vermutlich
der egostarke Archer selbst) sichtbar werden müssen:
550 Seiten für einen Drittaufguss von "Kain
und Abel" sind einfach zuviel! Daran ändert
auch nichts, wenn der Autor erstmals ernsthaft versucht,
das gute-Menschen-schlechte-Menschen-Image abzulegen
und zwei gewissenlose Aufsteiger mit durchaus menschlichen
Schwächen, zwei zukünftige Medientycoons (deutlich
an Murdoch angelehnt) portraitiert, auch nicht, dass
es ein kritisches Buch über Medienpower, Meinungsmache,
Verquickung von Politik und Medien, von Quotenjagd etc.
ist; am Ende bleibt eine dünne Story, deren Handlung
sich in drei Worten zusammenfassen lässt: kaufen,
kaufen, kaufen. Nichts anderes tun die beiden, nur die
Beträge ändern sich, was mit ein paar Kleinmünzen
begann, endet mit Milliarden, sprich, erneut: vom Tellerwäscher
zum Millionär. Und als wüsste Archer tatsächlich
um seine Schwäche, findet sich im Wortwust erneut
das Geständnis: "Having a good story is not
enough. You must then be able to commit it to paper.
Thats what takes real talent" (354). Um wie
viel mehr gilt dies, wenn selbst die Story arm ist?
Als dann zwei Jahre später "The
Eleventh Commandment" erschien, hätte
man glauben können, Archer hätte tatsächlich
begriffen und sich endlich auf das konzentriert, worin
er Meister ist. Und dieses Buch ist ein Muster, was
die Spannungserzeugung betrifft, enorm clever, wenn
auch einfach konstruiert, so wie ein guter Thriller
sein muss: voller Überraschungen und sich überlagernder
Konflikte, die schließlich alle überzeugend
zusammenlaufen. Aber dann packt den Überehrgeizigen
die Ambition erneut und er versucht sich zum weiteren
Mal an der Geschichte antagonistischer Zwillinge: "Sons
Of Fortune" (2002) ist vermutlich sein schwächstes
Produkt, so schlecht gemacht, dass es einem fast den
ganzen Archer verderben kann. Er sollte – man verzeihe
die Wiederholungen – keine Bücher schreiben,
in denen Personencharakteristiken notwendig sind, denn
das kann er nun mal nicht! Stattdessen fabriziert er
Schablonen – so uneindeutig, dass der Leser selbst
nach 300 Seiten noch nicht zwischen Nat und Fletcher,
Jimmy und Tom, den Hauptfiguren, zu unterscheiden weiß.
So langweilt er mit gewollt-und-nicht-gekonnt-Prosa.
Die Größe eines Autors liegt in der Selbsterkenntnis
der eigenen Unfähigkeiten: nur so konnte Archers
Vorbild Ian Fleming Weltruhm
erringen, der konsequent alle Beschreibungen vermied.
Nirgendwo wird es deutlicher als in seinen letzten Büchern:
Archer schreibt immer nur im eigenen Saft, selbstbegeistert
von der Ignoranz des Erfolgreichen.
In gewisser Weise trifft das auch auf
den vierten Kurzgeschichtenband zu (To Cut a Long
Story Short, 2000), der, sieht man mal von der ersten
Erzählung ab, die eine Lehrparabel über die
Macht des Wortes und deren gekonnten Ge- und Missbrauch
im juristischen Betrieb darstellt, inklusive erkenntnistheoretischer
und sprachphilosophischer Konnotationen, nichts enthält,
was der Erwähnung noch wert wäre. Wie gesagt,
das alles gilt in erster Linie für den Archer-Kenner;
der Neuling mag auch in den beiden letzten literarischen
Erzeugnissen noch Lesenswertes finden.
So gesehen konnte Archer nichts Besseres
geschehen als seine Inhaftierung wegen Meineids (perjury);
sie gab ihm die Möglichkeit ein vollkommen neues
Genre zu probieren: das Tagebuch, das Gefängnistagebuch.
Auch sein "Prison Diary" (2002/2003),
dessen erste zwei Teile mittlerweile erschienen sind,
brachte es umgehend zum Bestseller. Worin liegt der
Erfolg begründet? Sicherlich nicht in den erneut
zahlreichen Platituden – Archer versorgt seine
Leser z.B. akribisch mit Schlaf- und Essenszeiten -
, und wohl auch nicht in den zahlreichen Wehklagen und
Eitelkeiten [5], sondern sowohl in der Schadenfreude des
Lesevolkes als auch in den Zustandsbeschreibungen, die
das britische Strafsystem schwer kritisieren (insbesondere
die interne Kriminalität, der den Drogenkonsum
und -handel, der viele Kleinverbrecher erst zu wirklichen
macht). "This is Great Britain in the twenty-first
century, not Turkey, not Nigeria, not Kosovo, but Britain"
(53). Gekonnt nutzt der Multimillionär das politische
Potential um erneut Aufsehen zu erregen und sich zugleich
eine dritte politische Karriere nach dem Knast aufzubauen,
als Rächer und Reformer. Litten die meisten seiner
Wälzer am fehlenden Durchhaltevermögen trotz
geglücktem Start, so präsentiert sich das
Gefängnistagebuch umgekehrt, es gewinnt an Faszination,
wenn man die ersten Kapitel übersteht.
Schach
Wo soll in einem Leben auf der Überholspur,
die gelegentlichen Frontalzusammenstösse und Unfälle
inbegriffen, wo soll da Platz für das ruhigste,
das langwierigste, das tiefsinnigste aller Spiele sein?
Vielleicht, so könnte man erwarten, sitzt Häftling
FF8282 in seiner Zelle und spielt ein Spielchen mit
einem Co-Insassen. Nichts da, selbst der Gefängnisalltag
ist scheinbar straff durchorganisiert und ausgeplant,
da bleibt keine Zeit für Müßiggang:
Bücher müssen vorbereitet, Tagebücher
geschrieben werden, vermeintliche Fans werden befriedigt,
Lektionen erteilt und alles sonst, was ein überdrehtes
Ego braucht um sich seiner Sonderstellung gewiss zu
sein. Kein einziges Wort zum Schach in den Gefängnistagebüchern
und auch die Biographen wissen – es kann nicht
mehr verwundern - nichts, aber auch gar nichts, von
einem solchen Interesse zu berichten. Und doch spielt
es in zwölf von sechzehn Büchern eine mehr
oder weniger explizite Rolle, wird es erwähnt,
als Metapher oder als einfaches Utensil.
Man findet den gelegentlichen und doch
so typischen Sprachgebrauch von Schachtermini, etwa
in "The Prodigal Daughter", wo Mark über
ein "opening gambit" im ersten Gespräch
mit seiner späteren Geliebten nachsinnt (23) [6]
oder es dient, um ein soziales Milieu zu charakterisieren,
etwa in "Kane and Abel", wo es zu Williams
– des Bankerben – großbürgerlicher
und elitärer Erziehung gehört. Schach eignet
sich immer wieder, um sozialen Status zu symbolisieren
(Estate 133). Die Situation des Kalten Krieges wird
als schachbrettartig dargestellt (Matter 17) oder die
Russen – in guter alter James-Bond-Manier
– als eiskalte Strategen, sprich: clevere Schachspieler
(Commandment 158). Der künftige Aufsteiger und
Erfolgsmensch, seine Überlegenheit, lässt
sich dankbar an Schachsiegen aufzeigen (Kane 40). Aber
umgekehrt muss es nicht immer die Konkurrenzsituation
unterstreichen, es kann auch als Freundschaftsspiel
verstanden werden, denn wer Schach spielt, ist im Moment
intim mit dem anderen verbunden. In "Honour"
wird die Ambiguität der Situation herausgestrichen
– "Anyone watching the two bankers sparring
with each other might have been surprised to learn that
they played chess together every Sunday night"
(236), wohingegen man in "Estate" über
das wöchentliche Schachspiel Freundschaft schließt
(157, 197) [7]. Den gegenteiligen
Effekt unterstreicht Archer in "Crow, wo
er Charlie Trumpers "the biggest deal of my
life als reine Konfrontation mit der Schachsituation
– "we faced each other, just a few feet
apart, like rival chess players" – vergleicht
(360). Schach findet aber auch als reines Spiel Erwähnung;
es wird seine absorbierende Kraft genutzt, etwa während
eines Bombenangriffs: "Two regulars in a corner
continued a game of chess as if the war were no more
than an inconvenience (387f.).
Oft ist es Archers Witz, der seine Bücher
genießbar macht. Auch das Schach kann dabei im
Mittelpunkt stehen, etwa wenn die terroristischen Besetzer
einer Botschaft ein Schachturnier mit ihren Geißeln
abhalten.
Über diesen akzidentiellen Gebrauch
hinaus gibt es durchaus Szenen, in dem das Spiel sinntragenden
Charakter erhält.
Als Stephen in "Not a Penny More,
Not a Penny Less" soeben erfährt in großem
Stile geschröpft worden zu sein, da erinnert er
sich, auf Rache für den Gaunerspekulanten sinnend,
an die abendlichen Schachpartien mit dem Großvater;
der geniale Racheplan nimmt damit erste Form an. "His
grandfathers advice to him, when as a small child
he failed to win their nightly game of chess, floated
across his mind: Stevie, dont get cross, get even
(64) – was immer das auch bedeuten mag. Der Schachorientierte
strategische Rat des Großvaters wird auf die Lebenssituation
übertragen und damit das Gesamtunternehmen als
ein Schachspiel interpretiert, zumindest in diesem einen,
entscheidenden Moment.
Eine nette Kurzgeschichte – "The
Luncheon" – in Archers erstem und bestem
Novellenband ("A Quiver Full of Arrows") kennt
den Vergleich der dominanten femme fatal mit
einer Schachkönigin. "She wore a long white
cocktail dress and her blond hair was done up in one
of those buns that looks like a cottage loaf. The overall
effect made her appear somewhat like a chess queen
(33) und da der männliche Erzähler sich des
Namens der Schönen nicht erinnern kann, die ihn
enthusiastisch, wie einen langjährigen Bekannten,
begrüßt, so bleibt er dabei, sie im Geiste
als "white queen zu bezeichnen. Der junge
und noch erfolglose Autor lädt die verwöhnte
Verlegergattin zum Essen ein, bei jedem Gange nervös
zusammenrechnend, ob sein letztes Geld reichen wird,
ob er sich der Blamage entziehen kann. Archer gelingt
mit Hilfe der Verbildlichung als Weiße Königin
die Charakterisierung der extravaganten Amerikanerin;
sie gestattet ihm, schnurstracks zur Handlungserzählung
zu gelangen. Die Geschichte ist zwar harmlos, zeigt
aber beispielhaft, wie ein Schriftsteller gekonnt seine
Schwächen verbergen kann. Vielleicht fiel das umso
leichter, da die Grundidee einer gleichnamigen short
novel Somerset Maughams entstammt [8], in der die Schachreferenz
freilich fehlt, die nichtsdestotrotz sich deutlich besser
liest als Archers Imitation.
"A Weekend to Remember",
eine weitere Kurzgeschichte aus Archers letztem Band
"To Cut a Long Story Short" zeichnet sich
auch nicht gerade durch Brillanz aus - man kann sie
maximal als gefällig bezeichnen – wohl aber
durch erneute Einbringung der Schachmetapher. Diesmal
begreift sich der Erzähler, der eine junge hübsche
Frau kennen lernt, mit ihr nach Paris reist um schließlich
nicht nur enttäuscht festzustellen, dass da nichts
zu holen ist, sondern dass er in einem anderen Liebesspiel,
im Spiel um Macht und Verführung, nur missbraucht
wurde: "I realised I must be a pawn in a far
bigger game; but would it be a bishop or a knight that
finally removed me from the board?" (198).
Es dauert nicht lange, bis der eigentliche Spieler auf
der Bühne, oder besser, dem Spielbrett erscheint:
"Check
The knight has advanced across the
board – or, to be more accurate, the Channel –
and I have a feeling hes about to be brought into
play" (199). Archer reitet die Analogie noch
weiter, die weibliche Begleitung des "Knights
wird ebenso als Bauer im Spiel identifiziert, geschlagen
von der (diesmal) Schwarzen Königin; mit ihr tut
sich der Geschlagene zusammen, zieht er sich aus dem
Schach usw.
Man merkt schon, das alles ist keine
große Literatur und wird es auch nicht werden,
wenn wir uns nun den beiden expliziten Schachgeschichten
zuwenden, aber man darf bei alldem nicht vergessen,
dass vermutlich mehr, wesentlich mehr Menschen diesen
Kram gelesen haben, als die "Schachnovelle"
und "Lushins Verteidigung" und die "Lüneburg-Variante"
zusammen. Wenn es also um Breitenwirkung geht, um versteckte
Werbung, wenn man so will, dann kann man aus schachlicher
Sicht nicht an Archer vorbei. (Wie oft habe ich in England
erfahren, dass der Name Stefan Zweig in Schachkreisen
unbekannt ist, wohingegen die Nennung Archers sofort
zu Tiraden veranlasst. Statistisch gesehen hat allein
in GB jeder Bürger zwei Archer Bücher gekauft/gelesen. [9])
Schach als persuasive Metapher scheint
zu Archers festem Begriffsschema zu gehören, denn
die erste seiner beiden "Schachnovellen",
unter dem eindeutigen Titel "Checkmate"
in "A Twiste in the Tale" (172 – 182)
veröffentlich, kreist erneut um die Thematik der
sexuellen Verführungskraft der Frau/Königin
am Leitfaden des Schachspiels. Die Eingangsszene ist
tatsächlich so atemberaubend wie unwahrscheinlich
[10]: eine wundersame Schönheit tritt ein und erregt
unter den versammelten Männern Aufsehen: große
blaue Augen, jung, hautenges Minikleid, Stöckelschuhe.
Kein Wunder, schließlich betritt sie den unwahrscheinlichsten
aller Orte: einen Turniersaal! Kein Wunder auch, dass
der Erzähler nur schwerlich sich auf seine erste
Partie konzentrieren kann, sitzt er doch in ihrer Nähe
und erhascht sogar einen Blickkontakt, ein scheues Lächeln.
Auch die Spielpause bietet keine Gelegenheit, drei andere
Verehrer haben ihr bereits einen Drink angeboten. So
bleibt vorerst nur, ihr in der zweiten Partie gelegentlich
zuzuschauen und mitzuerleben, wie sie von einem mittelmäßigen
Spieler, einer grauen Escheinung, einem Buchhaltertypen,
hoffnungslos überspielt wird. Endlich ergibt sich
doch die Chance: "I introduced myself and found
that just shaking hands with her was a sexual experience"
– soviel über sexuellen Magnetismus. Selbstredend
lässt sich der Erzähler die einmalige Gelegenheit
nicht entgehen, man plauscht ein bisschen über
die bisherigen Partien und kommt schließlich zu
Sache: man lässt sich kutschieren, man kennt seinen
Text – "Have you time to drop in for a
drink?" – und meistert die Tonlage - "It
would have to be a quick one". Das Signal kommt
gleich noch mal, als sie sich schon in der Höhle
des Löwen befindet, das exotische Schachbrett bewundert
und die Herausforderung zu einer kleinen Partie annimmt:
"Time for a quick one". Unserem Helden
fällt nun nichts Intelligenteres ein, als um einen
Spieleinsatz zu fragen, 10 Pfund zu offerieren. Er kann
sich nicht verkneifen anzufügen "You take
something off", im Falle der Niederlage. Nun,
das war nicht ganz fair, zugegeben, denn schließlich
wusste er aus der gekiebitzten Partie um ihre geringe
Spielstärke, aber da man sich nur "auf ein
schnelles" verabredet hatte, droht keine Gefahr;
was macht schon ein Schuh. "She wasnt
a bad player – what the pros call a patzer –
though her Roux opening was somewhat orthodox. I managed
to make the game last twenty minutes while sacrificing
several pieces without making it look too obvious. When
I said Checkmate, she kicked off both her
shoes and laughed". Es bleibt natürlich
nicht bei einem Spielchen und auch die Einsätze
werden verdoppelt - "The second game took a
little longer as I made a silly mistake early on, castling
on my queens side, and it took several moves to
recover. However, I still managed to finish the game
off in under thirty minutes" – und verdreifacht
"It
was the best game she had played all evening and her
use of the Warsaw gambit kept me at the board for over
thirty minutes. In fact I damn nearly lost early on
because I found it hard to concentrate properly on her
defence strategy. A couple of times Amanda chuckled
when she thought she had got the better of me, but it
became obvious she had had not seen Karpov play the
Sicilian defence and win from a seemingly impossible
position". Lässt sie sich – nur noch
mit dem Nötigsten bekleidet - auf ein letztes Spiel
ein? Satte 200 Pfund gegen alles? Na klar, das ist schließlich
Archers Plot oder der "twist in the tale":
"I have never been so comprehensively beaten
in my life. Amanda was in a totally different class
to me. She anticipated my every move and had gambits
I had never encountered or even read of before".
Plötzlich wird klar, wer hier die Puppen führte.
Sie kassiert den Scheck, gönnt ihm noch ein Küsschen
und weg ist sie. Aus dem Fenster sieht er sie nur noch
in einen parkenden Wagen steigen, der Buchhalter öffnet
ihr die Tür und fort sind die beiden.
Bedient wird mit diesem frivolen Geschichtchen,
das sich sicher nicht viele Freunde in feministischen
Kreisen macht, eher der Voyeur denn der ernsthafte Schachliebhaber,
zu flau ist der Plot und zu schreiend die Fachfehler.
Eine Blitzpartie mit 1 min pro Zug, eine Moskau-Eröffnung,
eine Roux-Eröffnung [11], ein Warschau-Gambit und ein
kopierter Sizilianer Karpows
, das ist doch zuviel
des Guten, selbst wenn man künstlerische Freiheit
einräumt. Aber dahinter verbirgt sich ein typisches
Problem Archers, das viele seiner Kritiker auf verschiedensten
Gebieten betont haben; seine Recherchen sind oberflächlich
und vermutlich liest man allen möglichen Unsinn
über Politik, Geheimdienste, Kunst, Wirtschaft,
Wissenschaft ohne es als Laie zu realisieren. Man könnte
auch in härteren Tönen von einem Blender sprechen.
Das alles sieht an der Oberfläche gut aus, es klingt
gut, kann aber keine Vertiefung vertragen. Exakt dies
wirft man der Person Archers im Großen vor! Man
darf nach dieser Lektüre davon ausgehen, in Archer
keinen authentischen Schachspieler vorzufinden.
"The Endgame" lautet
die zweite "Schachgeschichte" [12]; in ihr begegnen
dem Leser die beiden Hauptfiguren in einem fast paradiesischen
Zustand – schon das allein macht sie diskussionswürdig:
am lodernden Kaminfeuer sitzend, einen edlen Cognac
schlürfend, eine dicke Havanna schmauchend und
– um das Glück perfekt zu machen – in
eine Partie Schach vertieft. Cornelius Barrington, ein
erfolgreicher und schwerreicher Unternehmer sitzt seinem
Freund seit Kindertagen, dem Advokaten Frank Vintcent
gegenüber. Unterschiedlicher kann man sich die
Protagonisten kaum vorstellen, deren Leben gerade dabei
ist, sich vollkommen zu ändern. Es ist nicht zuletzt
das Schach, welches die Freundschaft am Leben erhält.
"Among the things that had kept them close friends
was their enduring love of chess. Frank joined Cornelius
at The Willows for a game every Thursday evening, and
the result usually remained in the balance, often ending
in a stalemate. Diesmal freilich muss sich
der eine beugen: "Congratulations
sad Frank, looking up from the board. I think
youve got me beaten this time. Im fairly
sure theres no escape. He smiled, placed
the red king flat on the board
Der rote
König stellt durchaus keinen weiteren Missgriff
Archers dar, vielmehr erinnert er daran, dass die frühen
Figuren des St. George-Sets und auch noch die ersten
Staunton-Figuren rot und weiß waren, übernommen
von den Arabern. Tatsächlich deutet sich mit diesem
Wink an, dass es sich um ein altes und wertvolles Set
handelt, "a sixteenth-century Persian masterpiece"
das im weiteren Handlungsverlauf seine Rolle spielen
wird. Jedenfalls ist Cornelius dabei die Testamentfrage
zu stellen und möchte deshalb ermitteln, wie die
Familienmitglieder wirklich zu ihm stehen. Zu diesem
Zwecke täuscht er seinen Bankrott vor, verkauft
sein Schlösschen, versteigert das Inventar. Wir
ersparen uns hier die vielen Komplikationen; man kann
sich denken, wie die Betreffenden ihren wahren Charakter
offenbaren – die einen unerwartet ihren schlechten,
die anderen unerwartet ihren guten. Das Ganze wird fast
selbstverständlich in Schachtermini diskutiert,
man macht seine Züge, denkt die anderen als Bauern
im Spiel, plant Strategie und Taktik etc. und auch das
schachtypische Überraschungsmoment darf nicht fehlen,
nicht alles geht schließlich glatt in einer solchen
Partie. Ausgerechnet das antike Schachspiel geht in
der obligatorischen Auktion für ein Butterbrot
weg, aber da auch einige der Bauern im Spiel mitdenken,
endet alles glücklich und die beiden Freunde dürfen
sich am Ende des Durcheinanders wieder an selbiges setzen,
am wärmenden Kamin, Cognac schlürfend und
die Zigarre schmauchend ein "orthodoxes Damengambit"
spielend, und um einiges klüger. Nirgendwo kommt
Archer dem wahren Schachgeist, jenem noch ungelüfteten
Geheimnis näher als in dieser literarischen Gelegenheitsarbeit,
die den ordinären Leser langweilen mag [13], die jedem
Caissa-Jünger jedoch aus dem Herzen sprechen muss,
denn sie verbreitet in Millionenauflage noch einmal
den Charme einer vergangenen Periode, der besten übrigens,
die das Schach je kannte.
Literatur:
Jeffrey Archer:
Not A Penny More, Not A Penny Less. Coronet edition
198424 (1976).
Shall We Tell The President. Harper Collins Omnibus
Edition 2001 (1977)
Kane And Abel. Coronet Edition 198427 (1979)
A Quiver Full Of Arrows. Harper Collins 1997 (1980)
The Prodigal Daughter. Harper Collins Omnibus Edition
2001 (1982)
First Among Equals. Coronet Edition 1985 (1984)
A Matter Of Honour. Coronet Edition 198710 (1988)
A Twist In The Tale. Coronet Edition 1989 (1988)
As The Crow Flies. Harper Collins edition 1997 (1991)
Honour Among Thieves. Harper Collins edition 1994 (1993)
Twelve Red Herrings. Harper Collins edition 1995 (1988)
The Fourth Estate. Harper Collins edition 1997 (1996)
The Eleventh Commandment. Harper Collins edition 1998
To Cut a Long Story Short. BCA edition. 2000
Sons Of Fortune. BCA edition. 2003 (2002)
A Prison Diary. Hell. Pan Books 2003 (2002)
Jonathan Mantle: Jeffrey Archer.
In For A Penny. Sphere Books 1989 (1988)
Michael Crick: Jeffrey Archer. Stranger Than Fiction.
London 2000.
Tim Dowling: Not The Archer Prison Diary. London 2000
--- Jörg Seidel, 22.09.2004 ---
[1]
Michael Crick: Jeffrey Archer. Stranger Than Fiction.
London 2000. Seite 463
[2] Jeffrey Archer: The
Fourth Estate. London 1997 Seite 183
[3] vgl. Crick 147
[4] dessen Trilogie um den
Premier Urquhart auf Metachess bereits besprochen wurde
[5] dies vor allem zog beißende
Kritik auf sich; z.B.: Tim Dowling: "Not The Archer
Prison Diary". London 2002
[6] ähnlich in "Commandment"
49
[7] ähnlich in "Commandment"
145
[8] "The Luncheon
in: The Complete Short Stories of William Somerset Maugham.
Volume 1. S. 91-94
[9] Dowling S. 54
[10] sie liest sich wie
Peter Krystufeks
intimste Träumerei
[11] Diverse Datenbanken
führen einen Spieler namens Luis Roux Cabral, der
auch gegen Aljechin oder Eliskases spielte aber vielleicht
darf man hier eher eine Affinität zu Philidor erraten,
von dem Archer gehört haben mag und daraus schloss,
dass es auch eine Roux-Eröffnung geben könnte.
[12] In: To Cut a Long
Story Short. S. 31-77
[13] http://www.ciao.co.uk/To_Cut_A_Long_Story_Short_Jeffrey_Archer__Review_5065738/SortOrder/6
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