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Gamesmanship
oder:
Wie man beim Schach (nicht) bescheißt und trotzdem
gewinnt.
As a medium for
demonstrating one's mastery of the game, the board and
pieces are, in fact, most unreliable.
William R.
Hartston
Der Reichtum der englischen Sprache,
verglichen mit der deutschen, ergibt sich aus zwei Tatsachen:
ihrem historisch begründeten großen Wortschatz
und ihrer Kompaktheit, d.i. die Fähigkeit Dinge
in prägnanter Kürze auf den Punkt zu bringen.
Deutsch hingegen bezieht seine Attraktivität aus
der grammatischen Komplexität. Es ist – neben
dem antiken Griechisch [1]
– die philosophische Sprache schlechthin, während
sich Englisch scheinbar unaufhaltsam als Weltverkehrssprache
etabliert. Dies sind, um es vereinfacht zu sagen, die
Gründe dafür, dass die deutsche Metaphysik
seit Meister Eckhart bis hin zu Marx, Schopenhauer,
Nietzsche und Heidegger tief, aufregend und umwälzend
war [2] (während englische Philosophie auf dem Kontinent
fast immer als langweilige Analytische Philosophie rezipiert
wird und nur dort wirklich Aufsehen erregte, wo sie,
wie etwa im Falle Berkeleys, zur extremen Ansichten
gelangte) und dass man einen guten Krimi oder flinke
Witze fast nur auf Englisch zu Gesicht und Gehör
bekommt [3].
Kein Wunder also, wenn uns immer wieder
unübersetzbare Begriffe begegnen. Einer der schillernderen
und faszinierenderen steht im Mittelpunkt der folgenden
Überlegungen: "Gamesmanship".
Nicht nur ist die Vokabel unübersetzbar in andere
(zumindest germanische und romanische) Sprachen, auch
das Englische kennt kein treffendes Synonym und muss
sich mit aufwendigen Umschreibungen abfinden: als "The
art or practice of winning games by means other than
superior skill without actually violating the rules",
umschreibt es das "The Penguin English Dictionary"
und das "Wordsworth Concise English Dictionary"
definiert es als: "(facet. - Stephen Potter)
the art of winning games by talk or conduct aimed at
putting ones opponent off". "facet."
meint "facetiously" = scherzhaft, spaßhaft
und Stephen Potter ist der "Erfinder" dieses
mittlerweile vielgenutzten Wortes. Tatsächlich
haben wir es hier mit dem eher seltenen Fall einer Wortschöpfung
zu tun, deren Entstehung eindeutig rückzuverfolgen
ist. Will man also Sinn und Konzept von gamesmanship
begreifen, so wird man Stephen Potters Buch "The
Theory and Practice of Gamesmanship" (nachfolgend
abgekürzt: G) aus dem Jahre 1947 und darüber
hinaus die drei Folgebände "Some Notes
on Lifemanship" (L), "One-Upmanship"
(O) und "Supermanship" (S) lesen müssen.
Und gleich vorweg: dies ist ein Hochgenuss, auf Neuhochdeutsch:
its great fun!
Gamesmanship lässt sich selbst für
seinen Schöpfer nicht in wenigen Worten erklären,
sondern bedarf eines ganzen Beispielkatalogs, selbst
wenn seine prägnante Arbeitshypothese schon eine
gute erste Vorstellung verleiht: "What is gamesmanship?
Most difficult question to answer briefly. The
Art of Winning Games Without Actually Cheating'"
(G 10). Eigentlich gehört gamesmanship aber
eher zu jenen Beschäftigungen, die man, um sie
zu verstehen, besser tut als bespricht.
Eine der Schwierigkeiten ergibt sich
aus der kompositorischen Vagheit des Begriffs, seltsamerweise
macht dieses Manko ihn derart schillernd. Zum einen
erlangt er seinen Puzzlecharakter (puzzle engl. = Rätsel)
aus seinen sechs Bestandteilen: game, gamesman, gamesmanship,
man, manship, -ship; zum anderen ist es die Bedeutungsvielfalt
jedes einzelnen Bestandteils, die die Genialität
der Wortschöpfung nachweist. Es ist der ideale
Beweis für – wie Michel Foucault es beschrieb
- die "wunderbare Eigenschaft der Sprache reich
zu sein durch ihren Mangel", Bedeutungsreichtum
zu erlangen durch den Mangel an Eindeutigkeit, durch
den Mangel an Worten im Vergleich zum Vorhandenen [4].
Jedes einzelne dieser Grundbestandteile weist eine beeindruckende
Bedeutungsvielfalt auf: game, von der Unterhaltung
über den Wettkampf bis hin zum Sport (Penguin Dictionary
gibt allein 11 Bedeutungen); man, vom männlichen
Erwachsenen bis hin zur Menschheit (10); -ship,
von der Bedingung und Qualität (friendship)
über die Fertigkeit (horsemanship, scholarship)
und den Status (professorship) bis hin zur Gruppenidentität
(membership) und dem Titel (Lordship).
Es kann also nicht wundern, wenn Potter diesen glücklichen
Begriff auf alle möglichen Gebiete ausdehnt und
wenn er zu zeigen versucht, dass ähnliche psychische
Strukturen in einer ganzen Anzahl von –manship-Ideen
anzutreffen sind. Vielleicht ist die Essenz des Terminus,
"the philosophy of gamesmanship", die
"One-Upmanship": "how to make
the other man feel that something has gone wrong, however
slightly" (L 13), kurz: dem anderen immer eines
voraus zu sein.
Nun, wird man sagen, was soll daran originell
sein? Ist es nicht schon immer der Menschen Ansinnen
gewesen, sich mit dem anderen zu messen und zu vergleichen
und, um überlegen zu sein oder wenigstens zu erscheinen,
auch, sagen wir mal, unlautere Mittel zu verwenden?
Tatsächlich liegt Potters Leistung auch nicht darin,
das Konzept des gamesmanship erfunden zu haben,
vielmehr geht auch er von "roots deep in human
character" aus (S 11) und bekennt: "I
browse in the realms of Behavioristicism and Implied
Anthropology" [5]
(S 14), ja mehr noch, führt er die "Origins
and Early History of Gamesmanship" bis auf
das Spiel der primitiven Tiere oder das Katz-und-Maus-Spiel
zurück, um andere frühe Formen wie "the
whole art of Homeric gamesmanship" (L 114)
und "the battle of Agincourt" [6]
und "the symbolism of the Pawns in Chess"
(G 97) daraus erwachsen zu lassen. Sein eigentliches
Verdienst liegt im Finden des kongenialen Wortes und
in der Beschreibung des Phänomens als Kunst, "The
art of winning
". Potter ist der erste
Analysator. Sein Konzept kann daher überhaupt nur
vor dem Hintergrund einer höheren Bildung und traditioneller
Etikette wirken: "no true gamesman is, I hope,
ever either mean or bad mannered" (G 43), stets
spricht er ausschließlich zum archetypischen englischen
Gentleman. Unsportlichkeit hat hier nichts zu suchen!
"The good gamesman is the good sportsman"
(G 21).
Müßig auch anzufügen,
dass der Spielraum des Begriffs den Raum des Spiels
überschreitet. Er ist "too big to be contained
by the world of games (G 10), es sei denn,
man betrachte das ganze Leben, die ganze Welt als Spiel
und Spielfläche.
Bevor wir uns dem Spezifikum Schach zuwenden,
inklusive der neueren Grenzüberschreitungen bis
hin zum glatten Betrug, ist es sinnvoll, einige –
und wir können hier nicht alles referieren –
Grundbestandteile des gamesmanship zu erläutern.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel hat
Sepp Herberger, der "Fußball-Philosoph",
gesagt und Potter würde ergänzen: das Spiel
beginnt vor der Partie, die Kunst des wahren gamesman
beginnt im Vorspiel, im "Pre-Game.
Sein erstes Axiom lautet: "THE FIRST MUSCLE
STIFFENED (in his opponent by the gamesman) IS THE FIRST
POINT GAINED (G 15). Ziel des Unterfangens
ist die Verwirrung ("flurry) des Gegners
und das kann durch verschiedene Mittel erreicht werden;
der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt, ob man
nun die Tennisschläger vertauscht, den Gegner mit
dem Wagen abholt oder sich abholen lässt um sich
dann zu verfahren oder verfahren zu lassen, ob man die
Vorteile des "Home and Awaymanship"
(L 109) ausspielt, sprich die je örtlichen Gegebenheiten
usw. das alles hängt vom eigenen Geschmack und
der Versiertheit ab. Potter kann hier nur Denkanstöße
und bewährte "gambits and ploys"
geben, sofern folgende Einstellung gesichert ist: "The
match started a good hour before the game began"
(G 88).
Gut bewährt haben sich auch "conversationship",
die Kunst den anderen in verhängnisvolle Selbst-
oder Unsicherheit zu quatschen (L15) oder aber auch
"clothemanship", die Kunst, durch denkbar
ungeeignetste Kleidung den Rivale abzulenken bzw. ihm
das Gefühl zu verleihen, bezüglich seiner
Kleiderordnung selbst fehl am Platze zu sein, frei nach
dem Motto: "If you cant volley, wear velvet
socks" (G 18). Welche Methode man auch wählt,
und Potters Werke sind voller skurriler Ideen, wichtig
ist allein, die richtige Atmosphäre des Unwohlseins
zu schaffen – "The atmosphere, of course,
is worked up, long before the game begins"
(L 87). -, den Gegner zu verunsichern, möglichst
ohne dass dieser etwas bemerkt: "The object
is to create a state of anxiety, to build up an atmosphere
of muddled fluster" (G 15).
Hierin einmal erfolgreich, fällt
es dem geübten gamesman leicht, den eigentlichen
Spielverlauf in seine Richtung zu lenken. Für den
gewieften Schachspieler versteht sich Potters Regel,
"play against your opponents tempo",
quasi von selbst und die Geschichte des "Königlichen
Spiels" kennt extreme Beispiele; wir erinnern an
dieser Stelle nur an das legendäre Turnier Hastings
1851, wo Williams – nicht ganz zufällig ein
Engländer – zweieinhalb Stunden für einen
Zug benötigte um den erzdeutschen Anderssen fast
an den Rand der Verzweiflung zu führen. Bedauerlicherweise
hat moderne Effizienz die Möglichkeiten dieser
Strategie in Form der Zeitbeschränkung drastisch
eingeengt, um andererseits ein neues weites Feld zu
eröffnen: das Spiel mit der Zeitnot (und den mittlerweile
aus der Mode gekommenen Hängepartien).
Potter exemplifiziert seine Theorie hauptsächlich
am Golf, "the gamesgame of gamesgames".
(Einer der dessen Bücher offensichtlich sehr genau
studiert hat, war Ian Fleming; James
Bond ist ein Meister des gamesmanship und die Bond-Romane
lassen sich leicht als Phänomenologie des gamesmanship
lesen. [7])
Auch eine andere teuflische Methode ist
aus dem Schach geläufig: "limpmanship"
"Limpmanship, as it used to be called, or the exact
use of minor injury, not only for the purpose of getting
out of, but for actually winning difficult contests,
is certainly as old as medieval tourneys, the knightly
combats, of ancient chivalry. Yet, nowadays, no device
is more clumsily used, no gambit more often muffed.
I hope I shall be able to give you a game
(G 29). Schon Blackburn (mitunter wird das Zitat auch
Amos Burn zugeschrieben) beklagte am Ende seiner erfolgreichen
Karriere, "nie gegen einen gesunden Gegner gewonnen
zu haben. Freilich, wäre der gamesman
nicht der geborene Verlierer, welchen Sinn hätte
die ganze Anstrengung? Besondere Schwierigkeiten ergeben
sich also aus einer Gewinnsituation, in der die Regeln
des "Winmanship" zu befolgen sind,
während die normale Verlustsituation gewisse Fertigkeiten
in "Losemanship" verlangt. Ist zum
Beispiel der Konkurrent in einem guten Rhythmus, in
einem "flow", so genügt es, ihn diskret
auf seinen beneidenswerten Zustand aufmerksam zu machen,
denn schließlich gilt: "CONSCIOUS FLOW
IS BROKEN FLOW" (G 47). Sollte der gamensman
trotz allem auf der Verliererstrasse sein, so muss er
sich umorientieren; statt um den Gewinn zu spielen,
spielt er nun um Ruhm und Ehre (als gamesman,
wohlgemerkt): "For the glory of the gamensman
whos a loseman in the game" (G46). Dies
lässt sich mit einer einzigen Formel erreichen:
"Praise-Dissection-Discussion-Doubt – is
the same for all shots and for all games. I often think
the possibilities of this gambit alone prove the superiority
of games to sports
" (G 48). Den Gegenspieler
zu preisen dürfte nicht schwer fallen, ihn unauffällig
abzulenken schon eher. Potter gibt als Beispiel "the
removal of an imaginary hair from opponents ball,
when he is in play" (G 50) im Billard, eine
simple Strategie, die im Schach insbesondere Anatoly
Karpow zur Perfektion beherrscht. Man wird schwerlich
ein Spiel des Ex-Weltmeisters sehen, in dem er nicht
ein imaginäres (oder vom eigenen Kopf gefallenes)
Haar mit keckem Finger vom Brett zu wischen versucht
[8].
Wie bei allen Dingen, die wirklich Spaß
machen, gibt es nicht nur ein Vor- sondern auch ein
Nachspiel. Der wahre gamesman ist der Vorkämpfer
der permanenten Partie. Das "After-game"
stellt sich zwei Ziele, in Abhängigkeit von der
Spielsituation. "The true gamesman knows that
the game is never at an end. Game-set-match is not enough.
Hat er nun gewonnen, so stellt er sicher, dass der Gegenspieler
dies in voller Intensität begreift und schafft
zu diesem frühen Zeitpunkt bereits die Grundlage
für kommende Aufeinandertreffen; "The winner
must win the winning". Hat er verloren, so
besteht die Aufgabe darin – "turning defeat
into something very near complete victory"
– dem Sieger das Siegesgefühl zu vergällen:
"It is true of the typical gamesman that his
opponent never knows when he has won". "And
the good gamesman is never known to lose, even if he
has lost" (G 83). Zum Beispiel kann man den
Sieger auf die Tradition des Titels aufmerksam machen
und ihn in eine lange Reihe von unangenehmen und unbeliebten
Vorgängern stellen oder, falls es sich um ein Freundschaftsspiel
handelt, die Bemerkung fallen lassen: "I dont
think Ive ever won a friendly match this
year. [9]
After-Game-Gamesmanship kann bereits
während des Spiels stattfinden, dann nämlich,
wenn die Siegesschale sich schon entscheidend geneigt
hat. So ist es mir (Schwarz) erst kürzlich passiert,
dass in dieser Stellung,
die für Schwarz unweigerlich gewonnen
ist und in der Weiß hätte problemlos aufgeben
können, mein Gegner mir, mit lächelnder Geste,
eine Tasse Kaffee – white, sugar, of course
– brachte. Daraufhin fragte ich ihn: "So,
youre preparing for a long battle?".
Er lachte und erwiderte: "I am completely aware
the position is lost, but
", unbewusst
gegen Benjamin Franklins Verdammnis dieses gambits
aus "The Morals of Chess verstoßend:
"You ought not to endeavour to amuse and deceive
your adversary, by pretending to have made bad moves,
and saying you have now lost the game, in order to make
him secure and careless, and inattentive to your schemes;
for this is fraud, and deceit, not skill in the game.
Was in dieser kleinen lebensnahen Szene
geschah, bringt Potter auf allgemeine Begriffe. Jeder
Versuch mithilfe des gamesmanships den Kontrahenten
zu beeinflussen, beginnt mit einem "gambit"
[10] oder "ploy"
und kann ausschließlich durch ein "countergambit"
bekämpft werden. Versierte gamesmen können
durch countercountergambits und countercountercountergambits
etc. ein brillantes Feuerwerk zündender Ideen,
ein Spiel im Spiel entfachen, noch bevor die Partie
begann oder jenseits von ihr, noch bevor ein Ball geschlagen,
eine Figur gerückt wurde. Die eigentliche Partie
des gamesman ist das Psychospiel.
So auch im Schach! "The prime
object of gamesmanship in chess must always be, at whatever
sacrifice, to build up your reputation" (G
76). Potter rühmt sich, in seinem lokalen Schachklub
als einer der stärksten Spieler zu gelten, ohne
je (actually) eine Partie gewonnen zu haben:
"this is done by affecting anxiety over the
wiseness (sic!) of your opponents move.,
etwa indem man ihn freundlich fragt, ob er das tatsächlich
so meine oder feststellt, dass er seine Entscheidung
zu Rochieren in sechs, sieben Zügen bereuen könne.
Ein anderes gambit bestand aus einer lauthals
vorgetragenen Blindschachpartie zweier gamensmen,
bei der Züge durchaus frei erfunden werden können,
da ohnehin niemand zu folgen weiß. "Potters
opening" hingegen – besonders wirksam
gegen stärkere Spieler, gegen die man ohnehin verliert,
besteht aus drei, vier Eröffnungszügen und
der nachfolgenden Aufgabe, mit der Begründung,
dass ein so erfahrener Spieler doch wohl kaum den forcierten
Figurenverlust im 17. Zug übersehen würde
etc. "It is no exaggeration to say that this
gambit, boldly carried out against the expert, heightens
the reputation of the gamesman more effectively than
the most courageous attempt to fight a losing battle"
(G 78).
"Sitzfleisch umschreibt
ein weiteres "primory chessmanship gambit,
"winning by use of the glutei muscles"
(G 79). Dass es sich hierbei um ein uraltes, typisch
englisches "gambit handelt, beweisen
Adolf Anderssens Aufzeichnungen vom Hastinger Turnier
1851: "Die Partien wurden auf niedrigen Tischen
und Stühlen ausgetragen. Die zu kleinen Tische
wurden von den Schachbrettern an den Seiten überragt.
Neben den Spielern saßen Sekretäre, die alle
Züge zu notieren hatten. Man hatte kein freies
Plätzchen, um das sorgenvolle Haupt während
des harten Kampfes zu stützen. Für den englischen
Spieler ist allerdings eine bequemere Einrichtung überflüssig.
Kerzengerade sitzt er auf seinem Stuhle, steckt die
Daumen in beide Westentaschen und sieht, bevor er zieht,
eine halbe Stunde regungslos auf das Brett. Hundert
Seufzer hat sein Gegner ausgestoßen, wenn er endlich
einen Zug ausführt" [11].
Die Kunst, die Steine richtig zu führen,
gehört auch dazu. Aggressives Figurenknallen führt
zwischen Männern meist nur zu erhöhtem Testosteronausstoß,
also gesteigerter Kampfeslust; von einer zarten Frauenhand
im richtigen Moment eingesetzt, kann es beim männlichen
Gegenüber verheerende Folgen haben. Der ergänzende
gekonnte Einsatz der weiblichen Büste versteht
sich von selbst [12].
Zugegeben, all diese Hinweise wirken
heutzutage etwas antiquiert. Sie stellen jedoch lediglich
den Beginn einer langen, einer sehr langen Tradition
dar – immerhin empfahl schon Ruy López (1561):
"Stelle das Brett so, dass die Sonne in die Augen
deines Gegners schaut" –, die mittlerweile
neue ungeahnte Blüten treibt.
Doch lassen sich daraus gut und gerne
allgemeine Schlussfolgerungen ziehen, etwa, um nur eine
Andeutung zu machen, für Schule, Lehre, Studium
und Beruf, wo es eben nicht darauf ankommt, Dinge zu
lernen und zu wissen, sondern lediglich darauf, die
Lehrkraft und den Vorgesetzten glauben zu machen, dass
man wisse. Anders ist ein Phänomen wie Gert Postel,
der Briefträger im Arztkittel, der nicht nur einer
Zunft, sondern der ganzen Gesellschaft einen Spiegel
vors Gesicht hielt, gar nicht denkbar [13].
Sein "gambit" bestand fast ausschließlich
aus der Nutzung von – wie es Potter nennt –
"OK-words and names", aus "clothemanship,
"passmanship und "committeeship
("the art of coming into a discussion without
actually understanding a word of what anybody is talking
about" O 51).
Wie weit aber darf man gehen? Sind Postels
"Doktorspiele", um am Beispiel zu bleiben,
nicht eigentlich Betrug und sogar kriminell? Definitorisch
zog Potter die Grenze beim "actually not cheating",
verweist er auf eine nicht zu überschreitende moralische
Grenze, nur leicht durch den ironischen Oberton ("actually")
unterminiert. Dort, wo der eigentliche Betrug beginnt,
findet die Grenzverletzung statt: "In other
words, gamesmanship can go too far. And the gamesman
must never forget that his watchwords, frequently repeated
to his friends, must be sportsmanship and consideration
of others (L 97).
Diese Grenze ist allerdings längst
überschritten worden!
Legitimer Nachfolger Potters ist William
Hartston mit seinen beiden Büchern "How
to Cheat at Chess" (dt. "Wie man beim
Schach bescheißt") und "Soft Pawn"
(dt. "Schach und Sex und Rockn Roll").
Nicht zufällig trägt erstgenanntes Büchlein
den Betrug schon im Titel, sucht also schon den direkten
krummen Weg zum Erfolg und reiht sich damit in eine
ganze Phalanx von Ratgebern zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen
ein, die meist alle schon vergessen haben, Erfolg ethisch
zu hinterfragen. Wer Erfolg hat, hat schon immer Recht.
Wir mögen diesen Zynismus, gestehen wir es uns
ein! Wir verstehen ihn viel besser als die Potterschen
Umständlichkeiten. Während man beim "Erfinder"
des gamesmanship aus dem Schmunzeln nicht herauskommt,
so bei Hartston aus dem Lachen nicht [14].
Und während Potter als subtiler Psychologe auftrat,
der gekonnt mit dem rhetorischen Mittel der Ironie umzugehen
verstand, geben heutige "Schachpsychologen"
ungeniert direkte Tipps, wie man den Konkurrenten mit
Hilfe "psychologischer" [15]
Tricks und Fallen auf die Verliererstrasse bringen kann.
Aktuellstes Beispiel dafür sind Amatzia Avnis
– ansonsten einer der wirklich lesenswerten Schachautoren
– "Practical Chess Psychology"
[16] oder Angus Dunningtons
sogenannte "Chess Psychology" [17],
die nicht über Banalitäten, faulen Zauber
und Anweisungen zu Täuschungsmanövern hinauskommen
und, im ersten Falle, sogar ein eigenes Kapitel "Psychological
Ploys" enthält.
Doch spricht sich darin lediglich ein
allgemeiner Gesinnungswandel aus, dessen tiefe Ursachen
in gesellschaftsmoralischen Entwicklungen zu suchen,
dessen öffentlichkeitswirksame Auswüchse nicht
zuletzt bei unseren Schachhelden zu finden sind. Die
Fälle von (versuchtem) Betrug sind mittlerweile
Legion, sie reichen von organisierten Traumpartien um
Schönheitspreise einzuheimsen [18],
über den mitleiderregenden Fall Allwermann [19]
bis hin zu Kasparows Zugrücknahme gegen Judith
Polgar (Linares 1994). Sie sind im Großmeister-Schach
offensichtlich gang und gäbe [20].
Vielleicht kann man sogar die verführerische These
wagen, dass unsere größten (modernen) Schachspieler
auch die größten Könner des gamesmanship
– um nur das mindeste zu sagen – sind. Man
denke nur an Fischers skandalöse Auftritte in Sousse
(besonders die Partie gegen Reshevsky) und Reykjavik
oder aber an das Affentheater von Baguio [21].
Hollands Nummer 1, Loek van Wely drückt es in der
passenden Sprache aus: "You dont have to
be a complete asshole to get to the top, but it helps"
[22].
--- Jörg Seidel, 22.04.2004 ---
[1]
wie Heidegger irgendwo sagt; vgl. auch: Raymond Aron:
Der engagierte Beobachter. Stuttgart 1983. S. 31
[2] Man kann das an einem
Beispiel verdeutlichen, an den Romanen des Norwegers
Knut Hamsun, dessen prosaisches Norwegisch in deutscher
Übersetzung scheinbar an geheimnisvoller Tiefe
gewinnt, dessen Bücher auf Englisch allerdings
nahezu ungenießbar werden, wie übrigens auch
in den romanischen Sprachen. Für "Markens
Grøde" erhielt Hamsun 1920 den Literaturnobelpreis.
Man müsste den Titel mit "Der Erde Wachsen"
oder "Wachstum der Erde" übersetzen und
tatsächlich lautet die englische Übersetzung
adäquat und kühl "Growth of the Soil",
wohingegen Hamsuns erste deutsche Übersetzerin
Pauline Klaiber daraus das konnotativ reiche, metaphysisch
aufgeladene und fast mystische "Segen der Erde"
macht.
[3] Diesen, zugegebenermaßen
etwas oberflächlichen Gedanken fortgesponnen, wird
man das Russische und seine Literatur als empfindsam
und besonders leidempfindlich auffassen können
und das Französische als sensibel und anregend.
Einen Dostojewski, Pasternak oder Solowjew kann es eben
nur auf Russisch geben, wie ein Balzac, Baudelaire und
Proust nur auf Französisch denkbar ist, und selbst
noch Derrida kaut inhaltsschwere Wörter wie der
Connaisseur den gehaltreichen Wein.
[4] Michel Foucault: Raymond
Roussel (1963). Frankfurt/M. 1989. S. 19ff.
[5] zwei Wörter, die
selbst schon für sciencemanship stehen
[6] die Schlacht von Agincourt
(1415), während des Hundertjährigen Krieges,
baut noch heute das historisch orientierte Selbstbewusstsein
der Engländer auf. In scheinbar aussichtloser Stellung
schickten 6000 englische Krieger angeblich 18 000 Franzosen
in den Tod; hauptsächlich mithilfe des legendär
gewordenen "long- bow". Der Langbogen
ist seither Symbol angelsächsischer Überlegenheit
und kaum jemand schert sich noch darum, dass Frankreich
actually den Krieg gewann!
[7] siehe "Schach und
Bond, James Bond"
http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Literatur/bond.php
[8] siehe auch: "Ist
das Schach ein sauberer Sport?"
http://www.koenig-plauen.de/Metachess/Polemik/gerueche.php
[9] Loek van Wely gab erst
kürzlich Einblick, wie ausgefeilt diese Kunst auf
dem Schacholymp beherrscht wird, ganz gleich, ob Kasparow,
Anand, Kramnik, Topalow, Radjobow, Ponomariow etc. siehe:
KINGPIN 37, 29-33
[10] neben "checkmate",
"stalemate" und "pawn in the game"
einer der vier Schachbegriffe, die wohl nicht nur im
Englischen den Weg in die Umgangssprache gefunden haben.
(The Penguin Dictionary of English Idioms. London 1994.
S. 254
[11] aus: Joachim Frank:
Lob des königlichen Spiels oder Schach-Brevier.
Wien/Berlin 1979. S. 80f.
[12] vgl. Chris Depasquale:
Battle of the Sexes. Kingpin 36, S. 17ff.
[13] Gert Postel. Doktorspiele.
Berlin 2001 (Eichborn)
[14] Das gilt allerdings
für das englische Original viel mehr als die deutschen
Übertragungen. Nicht dass Bernd Bra-ken und Norbert
Krüger als Übersetzer einen schlechten Job
gemacht hätten - ganz im Gegenteil, sie haben durch
die oft freie Übertragung noch das Beste draus
gemacht -, nein, es liegt an der englischen Sprache
selbst, die, wie eingangs erwähnt, im Falle des
Witzes eben nur begrenzt übersetzbar ist.
[15] Dass es sich um ein
primitives Fehlverständnis von "Psychologie"
handelt, wurde am Beispiel von Munzerts
"Schachpsychologie" deutlich gemacht.
[16] Amatzia Avni: Practical
Chess Psychology. Understanding the Human Factor".
London 2001
[17] dazu hat Johannes
Fischer in "KARL" schon alles gesagt: http://www.karlonline.org/kol20.htm
[18] vgl. Frank Rhoden:
Cheating at Chess. In: Chess Treasury of the Air. London
1966. S. 211
[19] Italien musste wenig
später einen ähnlichen Fall von computergestütztem
Betrugsversuch erfahren, bei dem allerdings der vermeintliche
Täter vielleicht selber zum Opfer eines übereifrigen
Schiedsrichters wurde. Vgl. "Italia Scacchistica"
1159, S. 52 und nachfolgende Nummern
[20] siehe z.B. David
Levy/Stewart Reuben: "The Chess Scene". London
1974. S. 117 – 127. oder, ganz frisch aus der Presse:
New in Chess 8/2003. S. 63.
[21] Vgl. Anatoly Karpov
& Baturinsky: From Baguio to Merano. The Worlds
Chess Championship Matches of 1978 and 1981. Oxford
1986. Wer Karpows Aussagen über Kortschnoi nicht
traut, dem sei die selbstentlarvende Au-tobiographie
des "gamesmanship-Weltmeisters ans Herz gelegt:
Victor Kortchnoi: Chess is my Life. London 1977.
[22] Kingpin 37. S. 29ff.
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